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Ökonomiserung aus Sicht von Externen/Zuschriften

Ökonomisierung des Gesundheitswesens – ausgewählte Probleme ohne Anspruch auf Vollständigkeit

24. September 2020

Ökonomisierung des Gesundheitswesens – ausgewählte Probleme ohne Anspruch auf Vollständigkeit
Ich behaupte, dass unter der Ökonomisierung des Gesundheitswesens fast alle gesundheitlichen, therapeutischen und pflegerischen Berufsgruppen sowie die Patientinnen und Patienten leiden. Und unter Ökonomisierung im Gesundheitswesen verstehe ich, dass sich Gesundheitsversorgung dem Primat beugt, für den Gesundheitsbetrieb Erlöse zu erzeugen. Es steht nicht zwingend im Vordergrund, eine bedarfsgerechte und qualitativ hohe Gesundheitsversorgung zu erreichen. Die Handlungen, Maßnahmen und Interventionen der an Gesundheitsversorgung beteiligten Berufsgruppen werden damit zum Zweck der betrieblichen Tätigkeit und allein zweck-rational umdefiniert. Und damit steht in diesem Verständnis eine Ökonomisierung vielfach im Widerspruch mit den professionellen Erwartungen und Kenntnissen der ärztlichen, gesundheitlichen, pflegerischen und therapeutischen Berufsgruppen sowie den Patientinnen, Patienten und pflegebedürftigen Menschen.

Mein Beitrag wird weniger praxisorientiert sein, obwohl ich so viele Geschichten von Studierenden aus dem Wahnsinn des Systems höre, wie viele unsinnige Maßnahmen und Interventionen erfolgen, weil sie Geld bringen oder eben nicht erfolgen, weil kein ausreichend qualifiziertes Personal vorhanden ist. Ich erlebe auch immer wieder diese Beschränkungen unseres Gesundheitssystems. Ich skizziere ausgewählte Probleme, die beliebig erweiterbar sind.

DRGs (Diagnoses Related Groups)

Und zum Thema Ökonomisierung des Gesundheitswesens fallen mir sofort die DRGs ein. Die DRGs (Diagnoses Related Groups) haben u.a. zu einer beispiellosen Reduzierung des Pflegepersonals in Krankenhäusern geführt, die uns im OECD-Vergleich die Position einräumt, das Land mit einem der schlechtesten Pflegepersonal-Patientenschlüssel zu sein. Den Fokus allein auf medizinische Diagnosen, Maßnahmen und Interventionen zu lenken und Erlöse zu steigern, birgt nicht nur die Gefahr, dass Patientinnen und Patienten unnötige Maßnahmen erhalten, sondern auch, dass die Bedarfe der Versorgung, die nun einmal aus einer medizinischen Diagnose resultieren nicht erkannt und damit angemessen finanziert und erbracht werden können.

Die Konsequenzen der DRGs sind nämlich wie folgt: aus der Perspektive der Krankenhäuser bringt seit Einführung der DRGs nur die ärztliche Versorgung Einnahmen ein, während die pflegerischen, gesundheitstherapeutischen und weiteren Berufe offenbar allein Kosten verursachen. Die daraus resultierende Konsequenz ist aber eine Unter- und Fehlversorgungen von Patientinnen und Patienten. Aufgrund dieses einseitigen Blicks auf Gesundheitsversorgung ist aus dem Fokus geraten, dass die Leistungen der Pflege-, Gesundheits- und Therapieberufe relevante Ergänzungen und Erweiterungen der medizinischen Diagnosen und Maßnahmen sind. Ein Krankenhausaufenthalt erfolgt ja im Grunde nur, weil Patientinnen und Patienten weitere Bedarfe in der Versorgung haben – ansonsten könnten die ärztlichen Prozeduren ambulant durchgeführt werden. Mit anderen Worten: die Leistungen der Pflege-, Gesundheits- und Therapieberufe sorgen ebenso für Einnahmen der Kliniken, da ohne diese Berufe auch die ärztlichen Leistungen und Prozeduren nicht stattfinden können. Für die Unterversorgung in der Pflege gibt es die wissenschaftlichen Konzepte „missed nursing care“ oder „care left undone“. Viele internationale Studien weisen daraufhin, dass bei nicht ausreichendem Pflegepersonalschlüssel viele pflegerische Maßnahmen unterbleiben oder rationiert werden und in der Folge die Komplikations- und Sterberaten der Patientinnen und Patienten steigen. In einer Studie wurde unter anderem formuliert, dass die Wahrscheinlichkeit in einem Krankenhaus mit nicht ausreichenden Pflegepersonalschlüssel zu sterben, um 18% höher sei. Wie hoch auch immer sie sein mag, es gibt keine Studie, die aussagt, dass schlechte Pflegepersonalschlüssel, um Kosten zu sparen, tatsächlich Kosten sparen, noch für die Patientinnen und Patienten sich als gut herausstellen. Die Arbeitsgruppe um Braun von der Universität Bremen hat als Ergebnis u.a. analysiert, dass die Einführung der DRGs zu einem Erosionsprozess der Professionalisierung der Pflege sowie des Arbeitsverständnisses von Pflegefachpersonen geführt hat. Viele pflegerische Aufgaben werden rationiert und nicht mehr durchgeführt. Genau diese Rationierung und Veränderung wird zu weiteren Kosten geführt haben, die wir in Deutschland nicht untersuchen, weil der Blick auf die Kosten im Gesundheitssystem und damit das zugrunde gelegte gesundheitsökonomische Paradigma offensichtlich veraltet und relativ eindimensional ist. Mit dem Gesagten möchte ich aber nicht formulieren, dass die Ärztinnen und Ärzte die Verantwortung für diese Situation haben. Viele leiden ebenso unter diesem ökonomisierten System. Auch sie sind gefangen darin und bemerken, dass eine bedarfsgerechte und patientenorientierte Versorgung in Krankenhäusern nicht mehr möglich ist.

Für die Pflege als Beruf ist international das Konstrukt des „Moral Distress“ relativ gut untersucht. Dieser besagt, dass das Stressempfinden der Pflegefachpersonen steigt, wenn sie aufgrund der Umstände, wie eben der erforderlichen Rationierung von Leistungen wegen eines ökonomisierten Systems, nicht anbieten können. Es ist in Frage zu stellen, ob ein Stressempfinden dieser Art auch für andere Gesundheitsberufe zu finden ist oder ob andere Konsequenzen gezogen werden. Auf jeden Fall haben „Moral Distress“-Erlebnisse eine schlechtere Patientenversorgung und auch Berufsflucht zur Folge.

Dieser einseitige Blick auf DRGs und Einnahmen verhindert auch die Kosten einzukalkulieren, die durch eine nicht bedarfsgerechte Versorgung entstehen. Wie viele Komplikationen, vorzeitige Tode, Verschlechterungen der Gesundheitssituation, Entstehung und Verschlechterung von Pflegebedürftigkeit könnten verhindert werden, wenn eine bedarfsgerechte und interdisziplinäre Gesundheitsversorgung in Krankenhäusern, aber auch im niedergelassenen und ambulanten Bereich möglich wäre.

Des Weiteren wird durch die Engführung unseres Gesundheitssystems mit einer einseitigen ökonomischen Betrachtung weder im ärztlichen noch im pflegerischen Bereich realisierbar, wohnortnahe präventive und gesundheitsförderliche Leistungen anzubieten. Bislang wurde nicht untersucht, welche Kosten in unserem Gesundheitssystem dadurch entstehen.

Pflegepersonalbemessung für Krankenhäuser

Pflegepersonalbemessungen, die alleine auf Zeitwerten beruhen, begünstigen eine weitere Ökonomisierung, Fragmentierung und Verrichtungsorientierung von Tätigkeiten. Diese berücksichtigen nicht die pflegefachlichen Grundlagen, Prozesse und die erforderlichen evidenz-basierten Maßnahmen. Sie berücksichtigen noch nicht mal „care left undone“ oder „missed nursing care“. Sie legen kein Verständnis von Pflege in Krankenhäusern und kein Skills-Grade-Mix zugrunde. Die Frage bei Pflegepersonalbemessungsinstrumenten für Pflegepersonal in Krankenhäusern in Deutschland ist alleine, wie schnell kann eine Person eine Verrichtung durchführen, damit so wenig Pflegepersonal wie möglich eingesetzt werden kann. Es ist ein rein zweck-rationales Instrument, das noch nicht mal Pausen, Wege oder unterschiedliche Qualifikationsniveaus und Kompetenzen vorsieht.

Es gab bereits in den 1990er Jahren ein Pflegepersonalbemessungsinstrument. Dieses wurde abgesetzt, da bereits damals ersichtlich wurde, dass mehr Pflegepersonal benötigt wurde. Diese Kosten sollten nicht getragen werden, da Pflegepersonal als ein Kostenfaktor für Krankenhäuser betrachtet wird. Diese Personalkosten sollten auf ein Minimum zusammengespart werden. Erst Anfang d. J. hatte ein Vertreter einer Krankenhausgesellschaft formuliert, dass es doch gar nicht erwiesen sei, dass Pflegepersonal für pflegerische Tätigkeiten wirkungsvoll sei. Deswegen könnte man auch andere Berufsgruppen einsetzen. Dahinter steht der Gedanke, dass Pflege als Beruf im Krankenhaus keine Bedeutung hat und von jedem und jeder durchgeführt werden könnte. Dieser Gedankengang ist ein rein ökonomischer, der nicht von erforderlichen Gesundheitsversorgungsprozessen ausgeht. Ich gehe davon aus, dass nur dann ein Pflegepersonalbemessungsinstrument in Deutschland umgesetzt wird, wenn es den eindimensionalen Erwartungen der Kosteneinsparung erwartet und die Taylorisierung entspricht. Es wird noch nicht mal mit Gesundheitsoutcomes und Qualität in einem Zusammenhang betrachtet oder untersucht. Das einzige Ziel ist darzustellen, wie wenig Pflegepersonal benötigt wird, um den Laden am Laufen zu halten. Letztendlich haben diese Vorgänge des Zusammenschrumpfens von Pflegepersonal auf Mindestanzahl dazu geführt, dass ein Verständnis von Pflegefachlichkeit und erforderlichen pflegerischen Maßnahmen, Aufgaben und Rollen in deutschen Krankenhäusern verloren gegangen ist.

Ein Pflegepersonalbemessungsinstrument, das Pflegefachlichkeit, Kompetenzen, Prozesse, Interdisziplinarität, unterschiedliche Qualifikationsniveaus kombiniert mit Gesundheitsoutcomes, „Missed Nursing Care“, „Care Left Undone“ und Qualität in Verbindung bringt, wird in Deutschland mit dem eindimensionalen Verständnis von Gesundheitswirtschaft und Betriebswirtschaft in Krankenhäusern keine Chance haben.

SGB XI – Pflegeversicherung

Das SGB XI als Pflegeversicherung ist von vornherein ökonomisiert gedacht, geplant und eingeführt worden. Es war nie das Ziel, mit der Pflegeversicherung für eine bedarfsgerechte pflegerische fachliche Pflege zu sorgen. Das eigentliche Ziel war, auf Kosten der pflegenden Angehörigen zu ermöglichen, dass pflegebedürftige Menschen so lange wie möglich zu Hause versorgt werden. Ganz zu Anhang war der Hintergrund, dass die Kosten der BSHG (Bundessozialhilfegesetz) für die stationäre Langzeitpflege gestiegen sind und diese sollten reduziert werden. Beim SGB XI geht es im Grunde um Laienpflege und allenfalls um Finanzierung von Basispflege durch Pflegefachpersonen oder Pflegehelferinnen. Die Tatsache, dass ein Pflegebedürftigkeitsbegriff dann zugrunde gelegt wurde, um zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern die Maßnahmen professioneller Pflege auszuhandeln, obwohl weder der festgelegte Pflegegrad noch ein Pflegebedürftigkeitsbegriff etwas über Pflegebedarfe aussagt, offenbart die durchgehende Ökonomisierung des SGB XI.

Aber diese Finanzierung des SGB XI führt bspw. dazu, dass viele pflegefachliche Aufgaben nicht finanziert werden oder erwartet wird, dass diese in der Durchführung der Basispflegeleistungen von den Pflegefachpersonen oder Pflegehelferinnen durchgeführt werden. D.h., das SGB XI ist Ökonomisierung par excellence: es wird eine Basisleistung finanziert zu einem geringen Entgelt mit der explizit formulierten Erwartung, dass die Fachleistung mitgeleistet wird. In der stationären Langzeitpflege hat Kerstin Freund mal untersucht, dass 60% der Leistungen, die gemäß SGB XI erwartet werden, nicht von Pflegekassen bezahlt werden.

Das neue Personalbemessungsinstrument für stationäre Langzeitpflege setzt dann die Laisierung fort. Es wird ein Pflegebedürftigkeitsinstrument zugrunde gelegt, das keine Pflegebedarfe abbildet. Es werden mehr und mehr HelferInnen Einzug halten. Es wird nicht untersucht, welche Auswirkungen diese Fortschreibung auf Verschlechterung Pflegebedürftigkeit, Komplikationen, Einweisungen in Kliniken etc. hat.

Zum Schluss…

Es ist mir hier nur möglich, einen kleinen Ausschnitt der Ökonomisierung des Gesundheitssystems darzustellen. Aber mit dieser werden Anreize gesetzt, die nicht zwingend zum Wohle der Patientinnen und Patienten, der Pflegebedürftigen und aller im Gesundheitssystem tätigen Berufsgruppen sind. Wir sollten uns auch die Frage stellen, wie gut sind wir im Vergleich mit anderen Ländern bezogen auf Gesundheitsoutcomes, Lebenserwartung, Entwicklung Pflegebedürftigkeit und ähnliches aufgestellt sind. Da wir relativ gut durch die erste Welle von Covid-19 gekommen sind, entsteht der trügerische Eindruck, dass unser „gutes“ Gesundheitssystem dafür verantwortlich sein könnte. Die Wahrheit ist aber, dass wir uns einen gesamtgesellschaftlichen Lock-Down geleistet haben, der verhinderte, dass auf einmal viele Menschen sehr krank wurden.

Covid-19 zeigte aber auch, dass unser Gesundheitssystem Schwächen hat. Lagerung von Schutzmaterialien wurden umgestellt auf On-Demand-Bestellungen, da Lagerhaltung im klassischen ökonomischen Denken der produzierenden Industrie als zu teuer betrachtet wird. Das Pflegepersonal wurde in allen Sektoren auf ein Mindestmaß zusammengeschrumpft, um nur noch aus Sicht der Leitungen erforderliche notwendige Maßnahmen auf Minimalniveau in „normalen Zeiten“ zu ermöglichen.

Und damit haben wir meiner Meinung nach ein weiteres Problem im Gesundheitssystem: viel zu häufig werden Modelle und Denkansätze aus der produzierenden Industrie und Wirtschaft auf das Gesundheitssystem übertragen. Es erscheint bereits als ein Fehler, von Gesundheitswirtschaft zu sprechen. Es benötigt neuer gesundheitsökonomischer Modelle, über die wir in Deutschland offensichtlich nicht verfügen und eines Denkens über eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung, die nur interdisziplinär erfolgen kann. Ein ökonomisiertes Gesundheitssystem verhindert vor allem auch eine interdisziplinäre Gesundheitsversorgung und stärkt die toxischen Hierarchien – zum Schaden der Patientinnen und Patienten und Pflegebedürftigen.

Viele relevante Themen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens konnte ich hier nicht ansprechen. Aber aus meiner Perspektive benötigt es aus den Berufen und deren Fachdisziplinen eines konzertierten wissenschaftlichen Ansatzes. Jede Diskussion, die zu Reformen und „neuen“ Denkansätzen zur gesundheitlichen Versorgung erfolgen, werden zumeist aus einem eindimensionalen und relativ veralteten Denkens des betriebswirtschaftlichen Erlöses gedacht und mit der Frage: „Wie viel kostet es?“ hinterlegt. Selten oder gar nicht wird gefragt: waren die bisherigen Reformen gesundheitsökonomisch erfolgreich? Waren sie für die Patienten und Patientinnen sinnvoll? Haben sie bezogen auf die umfassende gesundheitliche und sektorenübergreifende Versorgung überhaupt Kosten gespart? Welche volkswirtschaftlichen Konsequenzen bezogen auf Gesundheit, Wohlbefinden, gesundheitliche Schäden, Verrentung, Entstehung Pflegebedürftigkeit, vorzeitiger Austritt aus Beruf, unnötiger Kosten wegen der Anreize im System etc. entstehen?

Prof. Dr. habil. Martina Hasseler

https://www.martina-hasseler.com
Dwarslooper@HasselerMartina

Kommerzialisierung in der Medizin oder #EmamiSchreibt für #Twankenhaus

23. September 2020

Es freut mich, dass in den letzten Monaten das Thema Kommerzialisierung in der Medizin zunehmend wahrgenommen wird. Dabei richtet sich das Augenmerk oft auf Fragen wie die Rolle privater Krankenhausträger, den wachsenden Anteil nicht-medizinischer Kapitalgeber und Träger im Bereich medizinischer Versorgungszentren und den zunehmenden Einfluss von Kaufleuten in Krankenhäusern u.ä.

Alles berechtigte Punkte, alles wichtige Probleme, über das alles müssen wir gemeinsam reden und uns Gedanken machen. Was mich aber persönlich bewegt und interessiert, ist die Frage, wo wir uns als Ärzt*innen in diesem ganzen Prozess sehen. Im Klartext: Sind wir bereit aufzuarbeiten, welchen Anteil wir daran haben, dass die Dinge heute so sind wie sie sind?
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Wir müssen Reden ….. ein Plädoyer für die Reflexion bei der Wahl der ärztlichen Therapie

22. September 2020

Häufig werden Ärzt:innen – manchmal ernsthaft, manchmal im Scherz – als Handwerker:innen bezeichnet, entsprechende etwas despektierliche Bezeichnungen sind etwa die Knochen- oder Seelenklempner:in.

Wenn man diesen Gedankengang nun etwas weiter denkt, so kann man schon Analogien in der Arbeit einer Handwerker:in oder einer Ärzt:in feststellen.

So kommt eine Fließenleger:in in das Bad der Kund:in und stellt fest, das fünf der blauen Kacheln von der Wand gefallen sind (Diagnose) und nach Vorbereitung des Untergrundes werden diese Kacheln wieder an die Wand geklebt (Therapie).
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Eine gesunde Portion Ökonomie

22. September 2020

Über Geld spricht man nicht – diese Volksweisheit darf im Gesundheitswesen nicht gelten. Steigende Kosten, regulierte Märkte und schwankende Mittel werden Finanzierungsfragen weiter in den Mittelpunkt rücken. Eine Debatte über den bestmöglichen Einsatz der vorhandenen Ressourcen ist daher höchst relevant.

407,4 Milliarden Euro – so hoch schätzt das Statistische Bundesamt die Gesundheitsausgaben im Jahr 2019. Das sind mehr als 4.900 € pro Kopf und rund 11,8 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes. Im europäischen Vergleich sind wir damit Spitzenreiter. Die Ausgaben wuchsen dabei in den vergangenen Jahren jährlich um rund 4 Prozent.

Trotzdem herrscht an vielen Stellen statt sprudelnder Geldquellen eher Investitionsstau. Bestes Beispiel ist der Krankenhaussektor, der eigentlich schon deutlich digitaler aufgestellt sein könnte, als er heute ist. Veraltete IT-Systeme und vielfach papier- oder faxbasierte Prozesse sind oft eher Regel als Ausnahme. Die Missstände sind so offensichtlich, dass mit dem Krankenhauszukunftsgesetz nun sogar der Bund einspringt und entsprechende Mittel für dringend benötigte Investitionen bereitstellt.

Die Vermutung liegt also nahe, dass es uns hierzulande nicht primär an Geld mangelt – sondern eher an einer guten Verteilung. Diesen Schluss unterstützt das länderspezifische Gesundheitsprofil der Europäischen Kommission, in dem jährlich die Gesundheitssysteme der einzelnen EU-Länder analysiert und miteinander verglichen werden. Darin wird das deutsche System als vergleichsweise teuer und ineffizient abgestraft.

Noch ist der Schmerz zu ertragen, da Mittel weiterhin erschlossen werden können. Ganz anders könnte es in ein paar Jahren aussehen, wenn die Gesundheitsausgaben durch den demografischen weiter ansteigen werden. Wie schnell ein vermeintlich krisenfestes System an seine Grenzen kommen kann, zeigte nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie.

Mehr Effizienz statt Kürzungen

Es ist also mehr Effizienz gefragt, aber was heißt das genau? Instinktiv mögen manche da an das Klischee der Unternehmensberatung denken, die vor allem durch breite Entlassungen die Bilanz ihres Auftraggebers aufhübscht. Im Gesundheitssystem kann dies niemand ernsthaft fordern, schließlich arbeiten hier schon viele Beschäftige am Anschlag und das hohe Arbeitspensum ist in Bereichen wie der Pflege für viele der Anlass ihren Berufszweig ganz zu wechseln. Auch Lohnkürzungen sind in einer Branche, die den Fachkräftemangel bereits heute schmerzlich zu spüren bekommt, keine Option – im Gegenteil wird die Debatte um eine gerechte Entlohnung gerade lebendig geführt.

Vielmehr müssen die verfügbaren finanziellen Mittel dazu genutzt werden, vorhandene Prozesse zu verbessern oder ganz neu zu denken. Genau an dieser Stelle kann die Digitalisierung ansetzen. So errechnete die Unternehmensberatung PwC, dass durch den Einsatz digitaler Lösungen im Gesundheitswesen die Effizienz um 15 bis 20 Prozent steigen könnte. Ganz besonders geeignet sind die vergleichsweise zeitintensiven Prozesse in der Verwaltung und der Dokumentation. Wenn diese zunehmend automatisiert werden, wird zusätzlich mehr Zeit für die persönliche Behandlung frei – mit positiven Effekten für Patientinnen und Patienten sowie medizinischem Personal gleichermaßen.

Zentral ist es, dass die Digitalisierung nicht als Selbstzweck angesehen oder auf die reine Kostensenkung reduziert werden darf. Stattdessen müssen tatsächliche Mehrwerte für diejenigen geschaffen werden, die am Ende die Lösungen benutzen. Das fordert im Umkehrschluss ein besseres Verständnis, wie Ärztinnen und Ärzte und andere Leistungserbringer IT nutzen und welche Erfahrungen sie dabei machen. Genau aus diesem Grund hat der Marburger Bund gemeinsam mit dem Bundesverband Gesundheits-IT das Analyse-Tool Check IT gestartet, das explizit den Anwendernutzen in den Fokus nimmt – und damit ein Gegengewicht zur vorherrschenden rein technischen Perspektive schafft.

Fazit

Solange wir in einem marktwirtschaftlich organisierten System leben, werden marktwirtschaftliche Prozesse auch für die Gesundheitsversorgung prägend bleiben. Das Gesundheitssystem ist jedoch besonders, da es das Leben selbst schützen soll und eine ethische Verantwortung für alle darin Tätigen trägt. Die Diskussion darf sich nicht zuspitzen auf „Ökonomisierung – ja oder nein?“, sondern muss fragen: „Was macht gute Versorgung aus und welche ökonomischen Mechanismen und Rahmenbedingungen brauchen und wollen wir dafür?“. Gerade der vermehrte Einsatz digitaler Lösungen ist ein guter Weg, um die verschiedenen Perspektiven und Interessen in Einklang zu bringen und unsere Versorgung sogar noch weiter zu verbessern.

Sebastian Zilch

https://www.bvitg.de

Beginnen wir doch den Wahlkampf!

22. September 2020

Pflegende, die aus Überzeugung in den Beruf starten und nach wenigen Jahren bei Überlastung, schlechter Bezahlung und fehlender Aussicht auf Besserung aufgeben müssen.
Assistenzärzt*innen, die nach Jahren der Theorie idealistisch in der Klinik beginnen und an fehlender Ausbildung und DRG-gerechter Massenabfertigung verzweifeln.
Therapeut*innen, die mit hohem Anspruch in die Krankenhäuser kommen und rasch merken, dass die Anzahl an Patient*innen pro Therapeut*in keinen Anspruch erlaubt.

Wir erleben Beratungsfirmen, die unsere Krankenhäuser durchstreifen, um uns die Optimierung der Fallpauschalen (nicht der Patientenversorgung!) nahezubringen. Und das seltsame ist: Wir alle wissen das. Auch die Politik. Wir sehen den Abverkauf unserer Krankenhäuser an Aktiengesellschaften. Wir sehen die fehlende Ausbildung der Ärzt*innen, die uns an einer guten medizinischen Versorgung in der Zukunft zweifeln lässt. Wir wissen um den Pflegemangel, der die künftige menschenwürdige medizinische Versorgung der Bevölkerung kaum mehr sicherstellen kann.

Es gibt eine Vielzahl großartiger Vereine, Gewerkschaften und Einzelpersonen, die das Problem erkannt und den Kampf aufgenommen haben. Die Kampagne Bunte Kittel, gegründet von Pflegenden und Ärzt*innen begreift sich als GEMEINSAME Plattform für all diese Gruppen. Es gibt gemeinsame Gegner. Sie heißen DRG-System und Abverkauf von Krankenhäusern an Aktiengesellschaften. Nächstes Jahr sind Bundestagswahlen. Beginnen wir doch den Wahlkampf!

Linda und Michel für @BunteKittel

Ökonomisierung im Gesundheitswesen und die Finanzierung von Krankenhäusern

21. September 2020


Zunächst einmal ein Hot Take: Ökonomisierung im Gesundheitswesen ist an sich erst einmal nicht problematisch. Das Problem ist nicht, dass ökonomisch gewirtschaftet und gehandelt wird, das Problem ist, dass im Gesundheitssystem vieles bis so ziemlich alles auf Gewinne ausgerichtet ist und dass das zugrunde liegende Finanzierungssystem fehlerhaft ist.

Ein Beispiel: Bei ökonomischen Evaluationen wird geschaut ob und welche Maßnahmen einen Nutzen haben (meist in einem Effektmaß abgebildet, seltener in Geld abgebildet) und dieser Nutzen bzw dieses Effektmaß wird in Relation zu den Kosten gesetzt. Die Reinform, also dass sowohl Kosten als auch Nutzen in Geld abgebildet wird, ist die Kosten-Nutzen-Analyse.
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Für Öffentliche Gesundheit ohne kommerzielle Interessen

20. September 2020

Die COVID-19-Herausforderung

Die COVID-19-Pandemie hält die Welt seit Monaten in Atem. Der raschen Ausbreitung über den Globus folgte weltweit die Bekämpfung des Virus. Manche Politiker*innen sprechen gar vom Krieg gegen das Virus. Angesichts dieser Pandemie ist die Welt in besonderem von wirksamen Interventionen im Bereich der Öffentlichen Gesundheit abhängig. Ob dies zu einer Stärkung des Bereiches Bevölkerungsmedizin in Deutschland führen wird, bleibt allerdings abzuwarten.
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Kommerzialisierung aus Patientinnenperspektive

19. September 2020

Ich habe das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS). Eine Erkrankung, die durch verschiedene Gendefekte ausgelöst werden kann und dementsprechend nicht heilbar ist. Verschiedene Komorbiditäten kommen meistens noch hinzu. Dadurch, dass EDS so selten ist, kennen sich die wenigsten damit aus. Das ist natürlich verständlich. Da ich ausführliche Genetik- und Facharztberichte besitze, ist das eigentlich auch gar kein Problem. Wäre da nicht, dank der Kommerzialisierung, der Fallpauschalen, die oftmals so extrem beschränkte Zeit… An diesem Punkt scheitert das Ganze dann leider oft.

Die Behandlung wird abgelehnt, da es zu komplex ist, die Zeit fehlt oder auch weil entsprechende Rezepte für Medikamente oder Physiotherapie über das Budget gehen. Ich weiß nicht, wie oft ich die letzten Monate von A nach B nach C und wieder zurückgeschickt wurde. Ich weiß nicht, wie oft mir gesagt wurde, dass man mir gerne helfen würde, aber es nicht geht, aus Angst vor entsprechenden Regressforderungen…

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Utopie Gesundheitswesen 2030

19. September 2020

GEMEINSAME ZUKUNFT VON GESUNDHEITSWESEN, DEMOKRATIE UND ZIVILISIERTER ÖKONOMIE?

Siegen, den 1. Dezember 2030

Guten Tag, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Patientinnen und Patienten, Kolleginnen und Kollegen,

In den vergangenen 12 Jahren hat sich die ambulante und stationäre Medizin in Deutschland zum Positiven entwickelt und weltweiten Vorbildcharakter gewonnen. Die Medizin ist patientenorientierter geworden. Nicht nur in Sonntagsreden steht der Patient im Mittelpunkt, sondern ganz real. Inzwischen ist selbstverständlich geworden: Medizin und Ökonomie gehören zusammen, aber die Priorität haben medizinische Erwägungen, das Geld kommt erst zweitrangig.

Entscheidend für diesen Entwicklungsprozess waren politische Entscheidungen im Gefolge der Bundestagswahl des Jahres 2017 und der nachfolgenden schwierigen Regierungsbildung bis 2018. Die wesentliche Erkenntnis war: Das Gesundheitswesen ist in erster Linie für Patienten da, nicht für das Wirtschaftssystem.

In den Jahren vor 2018 war die Situation eskaliert durch die Einflüsse des liberalisierten Marktes auf die Gesundheitsversorgung. Der Glaube, die unsichtbare Hand des Marktes würde das Gesundheitswesen effektiver, besser und gerechter machen, führte zum Gegenteil. Die Versorgung wurde teurer und ineffektiver. Überversorgung für die einen, Fehlversorgung für die Mehrzahl der anderen.

Immer deutlicher wurde die Tendenz, nicht notwendige medizinische Maßnahmen aus monetären Interessen im Konkurrenzkampf der „Anbieter“ und wegen des Abrechnungssystems durchzuführen. Im internationalen Vergleich hat dies nicht nur nichts genützt, sondern vermeidbaren Schaden angerichtet. Der seit dem Altertum bekannte ärztliche Grundsatz „Primum non nocere = Vor allem nicht schaden!“ war in Vergessenheit geraten.

Hintergrund der auf dem Rücken der Patienten ausgetragenen Ökonomisierung der Medizin war auch, dass in einem Wirtschaftssystem, das zwingend auf ständiges Wachstum angewiesen ist, um gesellschaftliche Stabilität erreichen zu können, das Gesundheitswesen auf Biegen und Brechen als Wachstumsfaktor herhalten musste. Rückblickend kann man sagen, dass die gleichen Mechanismen, die global betrachtet zur kritischen Beschleunigung des Klimawandels, zur Zunahme der globalen Ungleichheit und zu nie dagewesenen Flüchtlingsströmen führen, auch schädliche und destabilisierende Folgen im Gesundheitswesen hatten.

Klugen Politikern des Jahres 2018 war bewusst, dass ein dauerhaftes Wachstum weder sinnvoll noch möglich ist, erst recht nicht im Gesundheitswesen. Es folgten politische Entscheidungen von lange nicht mehr dagewesenem MUT. Die demokratischen Institutionen haben es tatsächlich GEWAGT, das Gesundheitswesen fortan nach medizinischen Erfordernissen, anstatt für die Interessen der Profitmaximierer zu gestalten. Und von Anfang an wurden die Betroffenen mit einbezogen, Patienten, Ärzte, Krankenschwestern, Altenpfleger. Um die Missstände zu erkennen, waren keine jahrelangen Studien erforderlich, sondern das Gespräch mit den Betroffenen und denen, die die Arbeit machen.

Für mich als niedergelassenen Arzt war damals ein Teil der Alltagsarbeit sehr mühsam. Ich hatte bereits 20 Jahre hausärztliche Tätigkeit hinter mir mit entsprechender Erfahrung, so dass die rein medizinische Arbeit recht gut zu bewältigen war. Nervenaufreibend war, mich um widrige Umstände kümmern zu müssen, die mit der Patientenversorgung nichts zu tun hatten, wohl aber mit ökonomischen Zwängen.

Paradebeispiel war der Medikamentenmarkt, auf dem eine unsägliche, aus Marketinggründen gewollte Verwirrung, Desinformation und Desorientierung herrschte. Zudem waren die Gewinnchancen im Gesundheitswesen umso größer, je mehr Diagnosen und je weniger Autonomie ein Patient hatte. Im geschäftlichen Sinne war derjenige Patient am lukrativsten, der mit eher harmlosen Erkrankungen möglichst häufig von Arzt zu Arzt unterwegs war. An diesem und anderen Beispielen war schon damals zu erkennen, dass eine Verbesserung eine Prioritätenumkehr erfordert: zuerst die Medizin, dann das Geschäft.

Daraus ergibt sich die zweite wesentliche politische Erkenntnis des Jahres 2018: Ein Gesundheitswesen ist NICHT dann gut, wenn die Bevölkerung möglichst häufig zum Arzt muss, sondern wenn mit weniger Arztkonsultationen dasselbe Ziel erreicht wird.

Und noch eine dritte grundlegende Erkenntnis hatte sich bereits erwiesen und wurde nun in politische Entscheidungen einbezogen: Je mehr Ungleichheit in der Gesellschaft besteht, desto größer werden die gesundheitlichen Probleme der Bevölkerung und desto unwahrscheinlicher werden Zufriedenheit und Glück, sogar für die Wohlhabenden. Diesbezüglich hatten bereits um 2005 die Studien von Wilkinson und Pickett Aufsehen erregt.

Selbstverständlich gab es für die positiven Veränderungen der folgenden Jahre keinen vorgefertigten Masterplan. Im Gegenteil, in kluger Bescheidenheit hat niemand für sich in Anspruch genommen, den exakt richtigen Weg zu kennen. Maxime war aber, eine Richtung vorzugeben, die als Leitbilder die Patientenorientiertheit und die demokratische Partizipation hatte.

Im Rahmen dieser Perspektive hat man Schritt für Schritt Entscheidungen getroffen, diese in Gesetze und Verordnungen verwandelt, und dann beobachtet, was sich bewährt und was nicht. Zu diesem Zweck wurde alles, was schwierig vorauszuschätzen war, in Modellversuchen getestet und konsequent nur dann umgesetzt, wenn die Praxistauglichkeit nach Meinung der überwiegenden Mehrheit der Beteiligten erwiesen war. Schwierige Entscheidung, die von den Repräsentanten der repräsentativen Demokratie nicht allein gefällt werden konnten, wurden im Rahmen von Volksabstimmungen demokratisch abgesichert. Inzwischen ist es üblich, dass die Volksvertreter in Zweifelsfällen das Volk fragen. Aufgrund moderner Partizipationsmöglichkeiten ist die Demokratie sehr viel direkter geworden.

Was sich bis hierhin noch sehr theoretisch anhört, hat sich sehr bald in der Praxis bemerkbar gemacht, auch in der Praxis des Hausarztes.

Der Beginn war ein recht einfaches und für Außenstehende zunächst recht belanglos wirkendes Gesetz, das die Namensgebung von Medikamenten neu regelt. Noch 2018 bestand ein unglaubliches Chaos auf dem Medikamentenmarkt. Kern der Verwirrung war, dass in Deutschland jede Pharma-Firma für ihr Medikament einen Fantasienamen erfinden durfte, auch wenn es den Wirkstoff bereits von anderen Firmen gibt. So hatten wir beispielsweise in den Apotheken die Medikamente „Xanef“ oder „Pres“ oder „EnaHEXAL“ oder „Enabasics“ oder „Enalapril-AL“ oder „Corvo“, alles mit genau demselben Wirkstoff, nämlich Enalapril. Wir als Ärzte sollten natürlich immer alle Namen kennen, also wissen, was „drin“ ist. Konnten wir aber nicht, bei Zehntausenden von Namen. Dadurch sind unglaublich viele Fehler gemacht worden und eine Unmasse an Zeit und geistiger Energie verschwendet worden. Für die Patienten war es noch schlimmer, Einnahmefehler, Verunsicherung, Medikamentenpläne, die nicht zu den Medikamentenpackungen passen, im Krankenhaus andere Präparate als beim Hausarzt und und und. Durch kostensenkungs-motivierte Rabattverträge der Krankenkassen mit der Pharmaindustrie wurde alles noch komplizierter. Wir Ärzte hafteten für die Kosten unserer Verordnungen, ohne überhaupt zu wissen, was sie die Kassen real kosteten. Es gab täglich hunderttausende unsinniger und vermeidbarer Beratungsgespräche und Streitereien in Apotheken, in Arztpraxen, bei denen es immer nur darum ging, dass ein Präparat einen anderen Namen hat. Aber der Vertrauensverlust ließ sich auch durch noch so geduldige Beratungsgespräche nie ganz ausgleichen. Dass gerade die Ältesten und Hilfebedürftigsten am meisten überfordert waren, liegt auf der Hand.

Dann also 2018 das Gesetz: ab 2019 müssen alle Medikamente so heißen wie der Wirkstoff, der Firmenname wird mit Bindestrich an den Wirkstoffnamen angehängt. Das hat die Werbestrategien der Pharmaindustrie torpediert und zu entsprechenden Gegenreaktionen geführt, Arbeitsplätze, Wirtschaftsstandort und das Übliche. Letztlich legte sich das wieder, denn Gesetz ist Gesetz, und wer in Deutschland verkaufen und verdienen will, muss sich daranhalten. Auf einen Schlag herrschte Übersichtlichkeit im Medikamentenmarkt. Nun gab es „Enalapril-ratio“ und „Enalapril-ct“ und „Enalapril-AL“ und „Enalapril-STADA“, und jedem Arzt und Patient war unmittelbar ersichtlich, dass es sich immer um Enalapril handelt. Wer nun eine Medikamentendatenbank aufrief, hatte sofort alle „Enalapril“-Präparate untereinander und sofort einen Preisvergleich. Plötzlich passten die Medikamente vom Krankenhaus zu den Medikamenten vom Hausarzt. Und auf dem Medikamentenplan auf dem Küchenschrank des Patienten stand „Enalapril“ genauso wie auf der daneben liegenden Packung.

Für mich als Arzt eine fast paradiesische Vereinfachung: Für das Anpassen der bei der Krankenhausentlassung empfohlenen Medikation an die weitere hausärztliche Versorgung nur noch der halbe Zeitaufwand, bzw. jetzt ohne die Gefahr von Fehlern an das Praxisteam delegierbar. Generelle Vereinfachung meiner ärztlichen Tätigkeit: ich bin für die Auswahl des richtigen Wirkstoffes und der richtigen Dosierung verantwortlich, schreibe das auf das Rezept. Der Apotheker sucht ein qualitativ gutes UND günstiges Präparat mit diesem Wirkstoff aus, gibt das dem Patienten und ist dazu verpflichtet, bei nachfolgenden Rezepten möglichst wieder das Präparat von derselben Firma herauszugeben, so dass der Patient nicht nur denselben Wirkstoffnamen liest, sondern auch noch genau dieselbe Pille in der selben Form und Farbe bekommt.

Was war damit geschehen? Per Gesetz hatte nun patientenorientierte Medizin Vorrang vor Geschäftsinteressen, fast ein Präzedenzfall. Die positiven Erfahrungen mit dieser Maßnahme hatten weitere Folgen. Die kassenärztlichen Vereinigungen haben ein jährlich aktualisiertes Buch (analog oder digital) herausgebracht, welches die TOP 500-Wirkstoffe auflistet und vergleichend darstellt. Im Gegensatz zur „Roten Liste“ der Pharmaindustrie, die die Verwirrung nur steigerte, konnte man hier genau erkennen, bei welchen Diagnosen welcher Wirkstoff erste oder zweite oder dritte Wahl ist. Seitdem wird die Rote Liste oder herkömmliche kommerzielle Datenbanken kaum noch verwendet, dafür hat jeder Arzt die „TOP500“ auf dem Schreibtisch bzw. im Computer. Selbstverständlich sind auch sämtliche Anbieter von Praxis-Verwaltungs-Software dazu verpflichtet worden, die darin enthaltenen, natürlich werbefreien Informationen mit ihrem Programm zu liefern. Die relevanten Informationen sind jetzt klar strukturiert und gewichtet ohne Umwege erhältlich.

Fortbildungsveranstaltungen haben sich verändert. Die Pharmaindustrie bietet noch immer Ärztefortbildungen an, aber dafür bekommen Ärzte keine Fortbildungspunkte (die sie als Bestätigung für regelmäßiges Lernen nachweisen müssen) mehr. Fortbildungspunkte gibt es nur bei Veranstaltungen von unabhängigen Trägern.

Seit 2020 ist das Zulassungsrecht für Medikamente strenger geworden. Zuvor kamen beispielsweise in Deutschland jährlich etwa 50-100 neue Medikamente auf den Markt, von denen sich mittelfristig (und meist schon sehr früh erkennbar) nur etwa 1/10 als alltagsrelevante Verbesserungen herausgestellt haben. Die übrigen Mittel haben die bewährte Behandlung nicht verbessert, oft sogar verschlechtert, auf jeden Fall aber massiv verteuert. Viele neu zugelassene Mittel wurden nach wenigen Jahren wieder vom Markt genommen wegen erhöhten Gefahrenpotentials, das im schlampigen Zulassungsverfahren nicht erkannt worden war. Inzwischen werden nur noch wenige Medikamente neu zugelassen, nämlich die mit relevanten Verbesserungen des Patientennutzens. An denen darf und soll die Pharmaindustrie dann richtig viel verdienen.

Seit 2022 gibt es europaweit ein öffentliches Institut, welches im Zulassungsverfahren befindliche Medikamentenwirkstoffe in Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie testet. Die Tests dienen dazu, die Spreu frühzeitig vom Weizen zu trennen. Durch die öffentliche Trägerschaft sinken die Kosten der Pharmaindustrie für das Zulassungsverfahren. Im Gegensatz zu früheren Befürchtungen ist die Forschungstätigkeit der Industrie NICHT zurückgegangen, die Regeln haben sich als NICHT innovationsfeindlich erwiesen. Im Gegenteil, es wird wieder an dem geforscht, was medizinisch gebraucht wird, weniger an dem, was am meisten Gewinn versprach. Denn jetzt wird das am meisten belohnt, was den größten Patienten-Nutzen bringt. Bis 2018 war das anders, da wurde man als Arzt den Eindruck nicht los, dass die Medikamente am teuersten sind, die wenigen Menschen wenig nutzen. Einige pharmakologische Firmen sind inzwischen auf eine neue Art von Forschung übergegangen. Die Einzelfirmen verhalten sich nicht mehr hermetisch abgeriegelt, sondern arbeiten „open source“. Das macht im Einzelfall zwar Gewinne geringer, weil geteilt wird, aber in der Breite steigt die Wahrscheinlichkeit relevanter Innovationen.

Ab 2020 sind die Fehlanreize im Honorierungssystem schrittweise verringert worden. Im Rückblick kann man nur noch den Kopf schütteln. Über Jahre und Jahrzehnte hinweg war die Voraussetzung für hohen Gewinn im Gesundheitswesen erstens möglichst viele Krankheiten und zweitens möglichst viele und vor allem regelmäßige Arzt-Patienten-Kontakte. Niemand wäre auf die Idee gekommen, die Feuerwehr nach der Häufigkeit der Brände und die Polizei nach der Häufigkeit der Verbrechen zu bezahlen. Gute Feuerwehrarbeit ist, wenn es wenig brennt und gute Polizeiarbeit, wenn die Kriminalitätsrate runter geht. In einer Art kollektiver Blindheit hat kaum jemand sehen wollen, dass das Anreizsystem im Gesundheitswesen genau umgekehrt funktionierte. Und je ökonomisierter die Medizin, desto schlimmer wurde es. Systematisch wurden aus harmlosen Befindlichkeitsstörungen behandlungsbedürftige Krankheiten definiert, für die es -natürlich- ein passendes Medikament gab. Ein Arzt wie ich konnte an Patienten, die ihn selten brauchen, weil sie gut geschult und wenig verängstigt waren, schlicht und einfach kein Interesse haben. Das System hat konsequent die Patientenautonomie untergraben und stattdessen Verunsicherung, Angst und Abhängigkeitsmedizin produziert.

Ein ideales Honorierungssystem gibt es nicht. Aber das des Jahres 2030 ist viel besser als das des Jahres 2018. Es ist gelungen, eine intelligente Kombination aus Pauschalierungen, zeitabhängigem Honorar und wenigen Einzelleistungen zu finden in Kombination mit erstens einem Bonus für eingeschriebene Patienten, die NICHT kommen müssen und zweitens einem nach Zufriedenheit der Patienten gestaffelten Bonus. Das in aller Kürze, für das Verständnis der Wirkungen des Honorierungssystems gibt es gesonderte Literatur. Jedenfalls: seitdem ist meine Arbeit angenehmer geworden. Jetzt wird mein Bestreben belohnt, Patienten so zu beraten und zu führen, dass sie gesundheitlich möglichst autonom sind, wieder Vertrauen in ihren eigenen Körper haben, aber die Warnzeichen kennen, wann ein Arzt gebraucht wird. Über der Eingangstür meiner Praxis steht virtuell nicht nur „Vor allem nicht schaden“, sondern auch „Keinen Patienten kränker machen, als er ist“. Das gibt jetzt auch ökonomischen Sinn.

Bereits um die Jahrtausendwende hatten Soziologen einen klaren Zusammenhang zwischen Gesundheitsproblemen und anderen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen einerseits und dem Grad der Ungleichheit in Gesellschaften gefunden. Je größer die Kluft zwischen Arm und Reich, desto mehr Fettsucht, Diabetes, Hypertonie sowie Kriminalität, Drogenkonsum, ungewollte Schwangerschaften und vieles mehr, und zwar vor allem beim „abgehängten“ Teil der Bevölkerung. Gleichzeitig sinken Glück und Zufriedenheit, erstaunlicherweise auch bei den Wohlhabenden! Was zunächst nur an einzelnen Ländern nachgewiesen worden war, selbstverständlich an harten Daten aus den offiziellen statistischen Daten der Nationen, konnte im Laufe der Jahre an fast allen überprüften Gesellschaften bestätigt werden. Für mich als Arzt bedeutete das: wer effektiv Übergewichtigkeit und Diabetes verringern will, der sollte nicht allein auf Ernährungsschulungen und Sport und auf eine neue Tablette hoffen, sondern sich politisch dafür einsetzen, dass der Grad der Ungleichheit verringert wird. Dabei geht es nicht um Gleichmacherei oder Umsturz. Im Gegenteil, Reiche dürfen reich bleiben, der reichste Mann der Welt darf das auch weiterhin sein, aber dann eben nicht mit 100 Milliarden, sondern mit 10 Milliarden.

Das Prinzip, Ungleichheit zu verringern, soll sich, und da herrschte ab dem Jahr 2018 erfreulicherweise demokratischer Konsens, auch im Gesundheitswesen widerspiegeln. Die Bürgerversicherung war ein wichtiger Baustein dazu. Gesundheitsversorgung ist ein Grundrecht und soll für alle gleich gelten. Die zunächst skeptischen Bürger wurden in den Jahren danach zum allergrößten Teil besänftigt. Die Mehrheit hat mehr Vertrauen gewonnen, weil nicht mehr ständig das Gefühl, irgendwie schlechter oder billiger als andere behandelt zu werden. Der Eindruck von Gerechtigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für Vertrauen. Der wohlhabenden, privatversicherten Minderheit ist bewusst geworden, wie viele (potenziell gefährliche) diagnostische und therapeutische Maßnahmen in den Jahren zuvor nur aus finanziellen Erwägungen an ihnen durchexerziert wurden. Selbst die Ärzteschaft ist beruhigt bis erfreut, denn 90% der Ärzte profitieren davon. Da hatte man die irreale Sorge, ohne Privatpatienten bald am Hungertuche nagen zu müssen. Die „Verluste“ bei Privaten sind aber überkompensiert worden durch Mehreinnahmen bei Bürgerversicherungs-Versicherten, denn schließlich konnten an andere Stelle wesentliche Einsparungen durch Verzicht auf unsinnige Maßnahmen erzielt werden.

Das Verhältnis von Hausärzten und Fachärzten hat sich verändert. Gerade die „Basisversorger“ Allgemeinärzte und Kinderärzte fanden in den Jahren vor 2018 nicht oder nur mit Mühe Nachfolger. Im Rahmen dessen wurde deutlich, dass ein gute Basisversorgung die unabdingbare Voraussetzung für ein funktionierendes Gesundheitswesen ist. Man hat an der Stelle viel von Skandinavien lernen können. Dort wird mit weniger Aufwand und viel weniger Arzt-Patient-Kontakten mindestens genauso viel erreicht bezüglich der Gesundheitsziele und die Patienten sind mit ihrem Gesundheitswesen zufriedener als die Deutschen es waren. Mindestens 80% aller lösbaren Gesundheitsprobleme können von einem kompetenten Hausarzt gelöst werden. Für vielleicht 18% wird ergänzend ein Facharzt (niedergelassen oder Krankenhausambulanz) gebraucht. Für vielleicht 2% eine stationäre Krankenhausbehandlung. Der Allgemeinarzt/Familienarzt ist nicht nur Koordinator und Überweiser, sondern die Grundlage der Gesundheitsversorgung. Voraussetzung ist allerdings, dass ihm pro Patient mehr Zeit zur Verfügung steht als vor 2018. Das wurde erreicht durch weniger Arzt-Patienten-Kontakte, siehe oben. Aber auch durch mehr Allgemeinärzte bei langsamem Rückgang der Facharztzahlen. Ein Allgemeinarzt hat heute etwa 20-30% weniger Patientenkontakte im Quartal bei unveränderten Einnahmen. Dafür sind nur noch die Hälfte der Facharztüberweisungen notwendig. Die Fachärzte selbst verdienen genauso wie früher, haben mehr Zeit für die gründliche Beratung der Patienten, die wirklich vom Facharzt behandelt werden müssen, und machen weniger apparative Diagnostik nach Schema F, denn die wird jetzt schlechter honoriert als die persönlich-ärztliche Beratungstätigkeit.

Inzwischen gibt es Lehrstühle für Allgemein- und Familienmedizin an fast allen Universitäten. Praktische Allgemeinmedizin ist wesentlicher Bestandteil des Medizinstudiums. Wer will kann in der Allgemeinmedizin forschen, promovieren, sich habilitieren. Studenten lernen die sehr interessante und befriedigende Arbeit kennen, Menschen und ganze Familien über Jahre und Jahrzehnte zu betreuen. Diese Bemühungen tragen Früchte, seit etwa 2023 wollen viel mehr Studenten in der Allgemeinmedizin arbeiten.

Die Zusammenarbeit und gegenseitige Information von Hausärzten und Fachärzten hat sich deutlich gebessert. Mit den verbesserten Bedingungen sind natürlich auch Pflichten verbunden. Der Hausarzt ist verpflichtet, für jeden Patienten eine jederzeit aktuelle Liste von Dauerdiagnosen, Dauermedikamenten und Bedarfsmedikamenten zu erstellen, die dem Patienten für jede Konsultation bei Fachärzten oder in Krankenhäusern mitgegeben wird. Seitdem sind Schäden durch Fehlmedikation und fehlende Information deutlich zurück gegangen. Die Überweisung des Hausarztes ist nur gültig, wenn sie eine eindeutige schriftliche Fragestellung enthält. Im Gegenzug erhält der Hausarzt vom Facharzt einmal im Quartal einen kurzen, aber stichhaltigen Arztbericht.

Die öffentliche Forschungstätigkeit der Jahre ab 2022 hat weitere wichtige Erkenntnisse geliefert. Eine davon betrifft die Multimedikation, also die Verordnung von vielen Medikamenten gleichzeitig. In der Vergangenheit herrschten unglaubliche Zustände. Sehr viele alte Menschen mit mehreren chronischen Krankheiten erhielten 10 oder mehr verschiedene Sorten Tabletten parallel, manchmal mehr als 20 Tabletten am Tag, dazu noch Injektionen, Tropfen, Inhalationsmittel. Auch ansonsten vernünftige Ärzte hatten die Sorgen, man könne sie verklagen, wenn sie ein Medikament, das man passend zur Einzeldiagnose geben sollte, nicht verordnen würden. Inzwischen weiß man aufgrund umfangreicher Studien, dass die Grenze des Sinnvollen bei etwa 5 Medikamenten täglich liegt. Ab spätestens dem 6. Medikament werden unerwünschte Wirkungen mit großer Wahrscheinlichkeit größer als die erwünschte Wirkung. In solchen Fällen heißt es also, medizinisch und rechtlich abgesichert, dass systematisch alles, was weniger wichtig ist, weggelassen werden sollte, um dem Patienten nicht zu schaden. Heutzutage kann kein Arzt mehr Ärger bekommen, wenn er einer 80jährigen Patientin, die schon 5 Medikamente nimmt, KEINEN Cholesterinsenker mehr zusätzlich verordnet.

Auch andere rechtliche Dinge sind klarer geworden. Bis vor wenigen Jahren standen Ärzte unter einem gewissen rechtlichen Zwang, bei jeder unklaren Fragestellung möglichst immer gleich alle möglichen Untersuchungen durchzuführen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, an irgendeine seltene Möglichkeit nicht gedacht zu haben. Das hatte aber zur Folge, dass von 1000 Patienten 999 sinnlos und nicht selten mit unerwünschten Folgen durch die medizinische Maschinerie geschleust wurden, während vielleicht bei 1 Patient eine seltene Störung ein paar Tage früher entdeckt wurde als bei aufmerksamer Verlaufskontrolle. Mit dieser Strategie hat man also nicht nur horrende Kosten verursacht, sondern alles in allem mehr geschadet als genutzt. Heutzutage müssen zusätzliche Untersuchungen nur dann SOFORT gemacht werden, wenn es Hinweise auf eine unmittelbare Bedrohung des Patienten gibt, die durch die Erkenntnisse der Zusatzuntersuchung erfolgreich behandelt werden könnte. In allen anderen Fällen -und das ist die große Mehrzahl- hat die abwartende Verlaufskontrolle Vorrang. Bei unerwarteter Verschlechterung kann die Untersuchung immer noch rechtzeitig durchgeführt werden.

Inzwischen, im Jahr 2030, hat sich eine bemerkenswerte Entwicklung bestätigt: Während es in anderen Bereichen der nationalen und globalen Ökonomie noch immer eine Krise nach der anderen gibt, hat sich im Gesundheitswesen eine erstaunliche Stabilität entwickelt. Die medizinisch orientierten Entscheidungen der letzten 15 Jahre, die im herkömmlichen Sinne „wachstumsfeindlich“ waren, haben zu weitgehender Krisenfestigkeit geführt. Keiner konnte das sicher voraussagen, aber es ist gut, dass es so ist. Die Gewinne oder Überschüsse fließen nicht mehr überwiegend zu Aktionären, wo sie nicht konsumiert werden und dann als zusätzliches „anlagesuchendes Kapital“ auf den Finanzmärkten vagabundieren, um weitere Krisen auszulösen. Nein, die Überschüsse sind zum größten Teil von Aktionärskonten auf Menschen umgeleitet worden. Zum Beispiel zu Arzthelferinnen und Altenpflegerinnen und Pflegepersonal, die nun endlich ein Gehalt haben, von dem man gut leben kann. Deren Kaufkraft ist gestiegen, was der lokalen Wirtschaft nützt. Nebenbei wird auch die Kluft zwischen arm und reich verringert. Zudem werden die Patienten menschlich besser versorgt, was wiederum Medikamente einspart. Wir habe auch weiterhin Innovationen im Gesundheitswesen, technisch wie medikamentös. Neuerungen mit erwiesenem alltagsrelevanten Zusatznutzen werden richtig gut bezahlt, sogar besser als zuvor. Auch Ärzte verdienen im Vergleich zum Arbeitsaufwand mehr als vor 15 Jahren. Sie verursachen weniger Medikamentenkosten, weniger Zusatzuntersuchungen und weniger Krankenhauskosten, und helfen dadurch nicht nur ihren Patienten und dem Gesundheitssystem, sondern auch sich selbst. Das Anreizsystem ist an vielen Stellen verbessert worden und sehr häufig zeigt sich, dass Beratung und Information wichtiger ist als ökonomisch orientierter Aktionismus. Iatrogene Schäden, also Schaden am Patienten, der DURCH das Gesundheitssystem erst entsteht, ist seltener geworden. Ärzte sind bescheidener geworden, sie kennen ihre eigenen Grenzen besser. Statt monetär motiviertem Aktionismus wird wieder gründlicher abgewogen zwischen Tun und Lassen. Das Lassen ist schwieriger, aber häufig sehr viel sinnvoller als das Tun, erfordert aber Zeit und Beratung. Patienten spüren diese Veränderungen und haben wieder Vertrauen gewonnen in „ihr“ Gesundheitssystem.

Inzwischen haben die Vorgänge im Gesundheitswesen eine Art Vorbildcharakter. Der „Mut“, sich nicht immer angeblichen ökonomischen Zwängen unterzuordnen, sondern stattdessen nach Sinn und Verstand zu gestalten, wird von anderen kopiert. Unverändert muss betriebswirtschaftlich kalkuliert werden, müssen Gewinne gemacht werden. Aber mehr und mehr wird nach genossenschaftlichen Prinzipien organisiert, Prinzip Kostendeckung statt Kapitalbildung. Bei 90% der Beteiligten sind die Gehälter nicht geringer geworden, aber die immensen Summen, die als Aktionärsgewinn an die oberen 10% abgeflossen sind, haben sich erheblich reduziert. Stattdessen kommt dieses Geld wieder der Allgemeinheit zugute. Da nicht mehr ständig große Mengen Geld aus dem gemeinsamen Topf verschwinden, um auf den globalen Finanzmärkten ihr Unwesen zu treiben, hat sich auch der „Zwang zum Wachstum“ vermindert. Solcherart organisierte wirtschaftliche Einheiten können sehr wohl stabil bleiben, wenn sie im kommenden Jahr GENAUSO VIEL leisten wie im Vorjahr, anstatt jedes Jahr MEHR.

Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte die damalige britische Premierministerin Thatcher das TINA-Syndrom geprägt, welches bedeutet: There Is No Alternative. Jahrzehnte lang hat das die Welt geprägt, der Glaube, die Finanzwelt sei nun mal unabänderlich so, wie sie ist, und wir als Menschen müssten uns dauerhaft dem unterordnen. Die Globalisierungskritiker von „attac“ setzten dem ab 2000 entgegen: „Eine andere Welt ist möglich“. Lange wurde das nicht geglaubt. Aber jetzt wird im Gesundheitswesen vorgemacht, wie das gehen kann. Inzwischen haben auch die Regierungen verstanden, dass Politik Gestaltung sein muss anstatt Anpassung an vermeintliche Wirtschaftszwänge. Das letzte Tabu in diesem Irrweg war das Wachstumsparadigma, der Glaube, Stabilität könne es nur mit ständigem Wachstum geben. Das Herrschaftssystem des Mittelalters basierte auf der Unfehlbarkeit des Papstes. Das Herrschaftssystem der Finanzwirtschaft auf dem Zwang zum Wachstum.

Um nicht falsch verstanden zu werden: die kapitalistische Ökonomie ist eine unglaublich erfolgreiche menschliche Erfindung, der wir sehr viel zu verdanken haben. Dieses Wirtschaftssystem ist sehr erfolgreich, wenn es darum geht, Wohlstand aufzubauen. Es ist aber offensichtlich nicht in der Lage, bereits entwickelte, reiche Ökonomien auf dem erreichten Niveau zu stabilisieren. Inzwischen sind viele gesellschaftliche Kräfte mit der Beantwortung der wichtigsten Zukunftsfrage beschäftigt: Wie müssen die Regeln von Wirtschaft und Finanzen verändert werden, damit in einer entwickelten Gesellschaft auch bei Nullwachstum die Gesellschaft stabil bleiben kann? Wir im Gesundheitswesen haben schon einige Mosaiksteine zur Beantwortung dieser Frage geliefert. Wir haben Organisationsformen gefunden, die den Zwang zum Wachstum mindern. Darüber hinaus wird es gesamtgesellschaftlich auch um Finanzmathematik und Prozente gehen, denn irgendwo dort sind die Ursachen versteckt für die systemimmanente Kluft und den Zwang, ständiges Wirtschaftswachstum produzieren zu müssen. Einige Fortschritte gibt es auch dort, basierend auf ersten Vorschlägen einer Enquetekommission von 2013 wird die „Leistung“ nicht mehr in BIP gemessen, sondern in die neue Berechnungsweise gehen auch Ökologie, Bildung, Gesundheit und soziale Umstände mit ein. Wir als Akteure des Gesundheitswesens tragen also auch hier unseren Teil zum Erfolg bei.

Insgesamt ist eine erstaunliche Entwicklung in Gang gekommen. Wir haben im Gesundheitswesen begonnen, mit Ziel und Verstand zu entscheiden. Niemand wusste genau, wie die Entwicklung weiter gehen würde. Nun ist aber erkennbar, wie in hoch entwickelten Gesellschaften die Regeln des Wirtschaftens geändert werden können, dass Wirtschaftswachstum zwar sein darf, aber nicht sein MUSS. Das Vorbild der „Klima-Verbesserung“ im Gesundheitswesen findet den Weg zu stabileren Gesellschaften. Mittelfristig könnten sogar die Triebkräfte des Klimawandels gezähmt werden. Die Einbindung der Beteiligten, also MEHR Demokratie, in der Verbindung mit der Begrenzung von Macht scheinen der Schlüssel zu sein.

Ich selbst bin mittlerweile alt, aber gesund. Mit 68 Jahren hätte ich aufhören können. Zwei Jahre habe ich noch angehängt, die nun zu Ende gehen. Aktuell helfe ich, eine junge Kollegin in der Praxis einzuarbeiten. Einen 36jährigen Allgemeinmediziner hat die Praxis bereits. Es war unter den geänderten Bedingungen nicht schwierig, Interessenten zu finden. Die jungen Kollegen können inzwischen gut einschätzen, was auf sie zukommt: viel Verantwortung, viel Arbeit, aber auch viel Sinn und Erfolg. Das lohnt sich.

Wilfried Deiß

Hausarzt-Internist

Korrespondenzadresse: wilfried.deiss@posteo.de

(Erste Version Juni 2013, überarbeitet Dezember 2017)