Die COVID-19-Herausforderung
Die COVID-19-Pandemie hält die Welt seit Monaten in Atem. Der raschen Ausbreitung über den Globus folgte weltweit die Bekämpfung des Virus. Manche Politiker*innen sprechen gar vom Krieg gegen das Virus. Angesichts dieser Pandemie ist die Welt in besonderem von wirksamen Interventionen im Bereich der Öffentlichen Gesundheit abhängig. Ob dies zu einer Stärkung des Bereiches Bevölkerungsmedizin in Deutschland führen wird, bleibt allerdings abzuwarten.
Während des langjährigen Siegeszugs des globalisierten Neoliberalismus hatten individuelle, wirtschaftliche und politische Freiheiten einen höheren Stellenwert als öffentliche Belange und staatliche Einrichtungen. Deutschland schrumpfte wissentlich den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) und legte die Bevölkerungsmedizin praktizierenden Gesundheitsämter nahezu lahm. Erst die COVID-19-Pandemie hat diese gesundheitsgefährdende Entwicklung umgekehrt. Die akute Bedrohung der Gesundheit der gesamten Bevölkerung durch das Coronavirus hat den starken Staat plötzlich wieder zum Gebot der Stunde gemacht.
Die COVID-19-Krise hat die Politik in Deutschland gezwungen, sich stärker als bisher um die Bevölkerungsgesundheit und den zuständigen ÖGD, das bisherige Stiefkind des Gesundheitswesens, zu kümmern. Mit ihrem „Pakt für den ÖGD“ will die Bundesregierung über fünf Mrd. Euro in die Öffentliche Gesundheit stecken und die Einrichtungen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes stärken.
Das Regulativ Staat
Das ist eine echte Zäsur in der politischen Ausrichtung der Bundesregierung, die weit über die Gesundheitspolitik hinaus geht: Die Rückkehr des starken Staates, ausgerichtet an der Messlatte Gesundheit der Bevölkerung. Nach langjähriger unangefochtener Vorherrschaft der neoliberalen Ideologie und zunehmender Verdrängung des Staates aus seiner Verantwortung hat die öffentliche Hand im Zuge der Pandemie mit überraschender Klarheit und Entschlossenheit ihren Anspruch auf politische Steuerung bekräftigt. Zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung beschloss die Bundesregierung, in bisher unbekannter Form in das individuelle und gesellschaftliche Leben einzugreifen und sogar die wirtschaftliche und unternehmerische Freiheit einzuschränken. Die Abriegelung des Nationalstaates und die Interventionen des wiedererstarkten Staates erschienen angesichts der drohenden gesundheitlichen Gefahren nachvollziehbar.
Grundlagenforschung versus Bevölkerungsgesundheit
Der Umgang mit der Pandemie spiegelt zugleich die bestehende Dominanz biomedizinischer und technologischer Ansätze in der gesellschaftlichen Debatte über die Gesundheit der Bevölkerung wider. Vor allem in den ersten Monaten der COVID-19-Krise versorgten Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und Medien die Bevölkerung mit einer toxischen Mischung aus teils bedeutungslosen epidemiologischen Maßzahlen, möglichen Gefährdungsszenarien und beunruhigenden Bildern von Intensivstationen. Die pandemiebegleitende COVID-19-Informationsflut zeigt eindrücklich die Komplexität der Bevölkerungs-, öffentlichen und globalen Gesundheit, die auf das Engste mit anderen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen verknüpft ist und alle Beteiligten vor große Herausforderungen stellt.
Lange Zeit bestimmten vor allem Virolog*innen und Epidemiolog*innen die Debatte, während Expert*innen für Öffentliche Gesundheit, Bevölkerungsmediziner*innen oder Sozialmediziner*innen kaum nennenswert in Erscheinung traten. Diese Schwerpunktsetzung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass wichtige Fragen der Bevölkerungsgesundheit nicht hinreichend Berücksichtigung fanden und gesundheitspolitische Entscheidungen die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der verhängten Maßnahmen vernachlässigten.
Die staatlichen Einrichtungen
Letztlich stellt sich die Frage, ob die Vorherrschaft der virologischen Expertise in den Medien und im politischen Krisenmanagement die Öffentliche Gesundheit eher geschwächt als gestärkt hat. Die Tendenz zur biomedizinischen Einengung verdrängt sozialmedizinische Aspekte, die angemessene Beachtigung der gesellschaftlichen Determinanten der Gesundheit und die Forderungen nach größeren Anstrengungen im Bereich der Öffentlichen Gesundheit. Die bisherige Konzentration der deutschen globalen Gesundheitspolitik auf die Bekämpfung gefährlicher Infektionskrankheiten, die sich unter anderem in der Einrichtung eines Zentrums für Internationalen Gesundheitsschutz am Robert Koch-Institut und einer Abteilung u.a. für Gesundheitssicherheit im Bundesministerium für Gesundheit niederschlug, weist auf eine unzureichende Berücksichtigung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Determinanten von Gesundheit hin.
Die Politik der Bundesregierung wird der Komplexität, Interdisziplinarität und Universalität der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie bisher nicht in vollem Umfang gerecht. Bundespolitische Entscheidungsträger*innen setzen vorrangig auf biomedizinische und biotechnische Lösungen. Den gesellschaftlichen Determinanten von Gesundheit, die maßgeblich zur Entstehung, Ausbreitung und Auswirkung von Pandemieausbrüchen beitragen, widmen sie zumeist nur unzureichende Aufmerksamkeit. Ein solcher Umgang mit der Pandemie stellt wiederum die staatlichen Einrichtungen der öffentlichen Gesundheit, die es ja eigentlich zu stärken gilt, vor wachsende gesellschaftliche Herausforderungen. Denn die einseitige politische Prioritätensetzung auf innovative Impfstoffe und Medikamente greift zu kurz, solange man nicht gleichzeitig die Ursachen und Auslöser gefährlicher Infektionskrankheiten konsequent in den Blick nimmt. Die bisher vorliegenden Erkenntnisse zeigen, dass gefährliche Virusinfektionen gerade die Menschen am stärksten treffen, die ohnehin dem größten Risiko chronischer und armutsassoziierter Krankheiten ausgesetzt sind.
Die riesigen Summen öffentlicher Gelder, die Regierungen in die Entwicklung von COVID-19-Impfstoffen investieren, und die von der WHO ins Leben gerufenen Megastudien zur schnelleren Entwicklung von Arzneimitteln zur Bekämpfung der aktuellen Coronavirus-Pandemie werden vermutlich eher zu einer Zu- als einer Abnahme der globalen Ungleichheiten beitragen. Denn unter den Bedingungen von Renditeerwartung und Patentschutz dürften zukünftige Impfstoffe und Arzneimittel in erster Linie dem wohlhabenderen Teil der Weltbevölkerung zugutekommen, während die Menschen im Globalen Süden allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt davon profitieren. Unverhohlen vorgetragene nationalistische Alleingänge einflussreicher Staaten verschärfen dieses Problem. Solange sich die Nationalstaaten den komplexen Herausforderungen der Pandemie nicht stellen, bleibt die Idee einer Globalen Gesundheitsbewegung eine Fiktion.
Gesundheitsfürsorge
Auch in Deutschland geht das vorherrschende Konzept von Öffentlicher Gesundheit nicht der Frage nach, wie sich Risiken an ihrem Ursprung bekämpfen oder vermeiden lassen, sondern wie mit zukünftigen Risiken so umzugehen ist, dass sie nicht den Status quo gefährden oder Besitzstände bedrohen. Dabei geht es meistens um die Frage, wie die aus den Lebens- und Umweltbedingungen resultierenden Gesundheitsprobleme möglichst frühzeitig und umfassend erkennen und eindämmen lassen, statt die Lebens- und Umweltbedingungen für alle Menschen so zu verändern, dass die von ihnen ausgehende Gefährdung der Gesundheit abnimmt.
Es wird entscheidend sein, die wiedergewonnene Stärke des Staates auch gegenüber der Privatwirtschaft über die COVID-19-Krise hinaus zu erhalten. Die öffentliche Hand und ihre Einrichtungen stehen den Bürger*innen gegenüber in der Verantwortung, die Bedingungen für ein gesundes, gutes Leben zu schaffen. Schließlich ist der Staat die einzige Autorität, die das Recht auf Gesundheit garantieren und durchsetzen kann. Um die Gesundheit der Menschen zu verbessern und zu schützen, muss die Politik die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen und die WHO-Verfassung einhalten, um die Rechte und Ansprüche der Bürger*innen zu sichern und zu garantieren.
Verlierer*innen
Die COVID-19-Krise wird in Deutschland und weltweit viele Menschen zu psychischen, physischen und wirtschaftlichen Verlierer*innen machen. Gerade sie brauchen eine starke Politik der Fürsorge, des staatlichen Engagements, um sie aufzufangen und ihnen den Weg in eine gesunde Zukunft zu eröffnen. Öffentliche Gesundheit muss sich in Zukunft noch mehr als bisher um den Schutz der Bedürftigsten, der Armen und Ausgegrenzten, vor Gesundheitsrisiken und schlechter Gesundheit kümmern. Individuelle Unterstützung wird dabei nicht ausreichen, denn Gesundheit für Alle wird nicht ohne die Überwindung von Armut, Ungerechtigkeiten und sozialer Ungleichheit gelingen. So wichtig eine gute intensivmedizinische Versorgung in Zeiten der Pandemie auch ist, viel entscheidender für die Gesundheit der Bevölkerung sind die Lebens-, Arbeits-, Einkommens- und Umweltbedingungen, Bildung, Chancengleichheit und sozialer Zusammenhalt.
Die Chancen, die sich aus der COVID-19–Krise für die Gesundheits- und Sozialpolitik ergeben, sind groß. Es wäre fatal, wenn sich die deutsche Politik darauf beschränken würde, den vorherigen Status quo wiederherzustellen. Das Ziel sollte eine solidarischere und gerechtere Gesellschaft sein, die zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit führt und gesundheitliche Ungleichheiten und insbesondere die Kinderarmut verringert. Das wird nicht möglich sein ohne angemessene Finanzierung von Bildung, bessere Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, ein garantiertes Mindesteinkommen und letztlich die Schaffung einer gesunden Umwelt, in der alle Menschen gesund leben und arbeiten können.
Der Umgang mit der Pandemie darf sich nicht auf die Suche nach Medikamenten und Impfstoffen beschränken. Vielmehr muss die Gesundheitspolitik stärker als bisher die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und umweltbedingten Determinanten für Gesundheit berücksichtigen, die nicht nur zur Entstehung gefährlicher Virusinfektionen beitragen, sondern auch deren Virulenz und gesellschaftlich höchst ungleich verteilten Risiken beeinflusst. Das wird unweigerlich zu Auseinandersetzungen mit mächtigen Akteur*innen und Interessen führen, da eine an Menschenrechten und Chancengleichheit für Alle ausgerichtete Politik den Kern der heutigen globalen Wirtschaft, das vorherrschende Wachstumsmodell und letztlich die Machtverteilung in Frage stellen muss. Um aktiv zu einer gesünderen Welt beizutragen, müssen sich sowohl Theoretiker*innen als auch Praktiker*innen dezidierter für eine explizit politische Ausrichtung von Öffentlicher Gesundheit – Public Health – und eine stärkere politische Einmischung einsetzen.
Peter Tinnemann (@ptinnemann), Jens Holst (https://www.jens-holst.de/)