Offener Brief zu den Reformbedarfen im Gesundheitswesen des Twankenhauses

27. Oktober 2021

Sehr geehrte Gesundheitspolitiker:innen der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP,


Sie haben sich vorgenommen als Fortschrittskoalition „die Weichen für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung (zu) stellen“. Als Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen möchten wir in diesem offenen Brief daran erinnern, dass eine elementare Säule der Sozialpolitik ein gut funktionierendes Gesundheitssystem ist.


Das vielbeschworene Brennglas, das die Corona-Pandemie seit nunmehr fast zwei Jahren auf die Sozialsysteme wirft, hat überdeutlich gemacht, dass es im deutschen Gesundheitswesen an vielem krankt, dass die Gesundheitsberufe weithin ausgebrannt sind und schon vor den extremen Belastungen durch die pandemische Lage größtenteils im Zustand der dauernden Überlastung arbeiteten.


Sie haben in Ihrem Sondierungspapier den Bedarf an mehr gut ausgebildetem Pflegepersonal, besseren Arbeitsbedingungen in der Pflege, die Stärkung von Vorsorge und Prävention sowie des Öffentlichen Gesundheitsdienstes konstatiert, was wir prinzipiell begrüßen. Allerdings bleiben diese Feststellungen weit hinter den tatsächlichen Reformbedarfen des Gesundheitssystems in Deutschland zurück.


Sie planen, das „System der Fallpauschalen zur Krankenhausfinanzierung (…) weiter(zu)entwickeln und in Hinblick auf Sektoren wie Geburtshilfe und Notfallversorgung sowie Kinder- und Jugendmedizin an(zu)passen.” Ja, die von Ihnen genannten Versorgungsbereiche brauchen umgehend eine politische Unterstützung. Aber auch in den anderen Disziplinen der stationären Versorgung beeinträchtigten die Fallpauschalen und die zunehmende Kommerzialisierung von Medizin und Pflege die Güte der Versorgung teils erheblich.


Wir fordern Sie daher dringlich dazu auf, in den anstehenden Koalitionsverhandlungen der Zukunftsfähigkeit des Gesundheitswesens und damit auch der Gesundheitsversorgung der Bürgerinnen und Bürger die Bedeutung beizumessen, derer es dringend bedarf.


Folgende Aspekte halten wir für elementar; wir bitten Sie daher, im Interesse der Gesundheitsberufe ebenso wie der Patientinnen und Patienten um Bearbeitung und Beantwortung der von uns aufgeworfenen Problematiken in Ihrem Koalitionsvertrag.


1. Das Gesundheitswesen wurde weitgehend kommerzialisiert. Wirtschaftliche Interessen beeinflussen Liegezeiten, Behandlungspfade und führen zu einer ständigen Arbeitsverdichtung bei zahlreichen unbesetzten Stellen. Für viele Beschäftigte führte dies dazu, dass sie eine patient:innenorientierte Pflege und Medizin kaum noch praktizieren können.

Wir fordern Sie daher auf, die negativen Auswirkungen der Kommerzialisierung auf das Gesundheitssystem anzuerkennen und mit Ihrem Koalitionsvertrag politische Rahmenbedingungen zu entwickeln, die die fortschreitenden Kommerzialisierung begrenzen, um die Qualität der medizinischen und pflegerischen Versorgung zu verbessern. (1) Neben anderen Maßnahmen ist es unbedingt notwendig die G-DRGs nicht nur weiterzuentwickeln, sondern so grundlegend zu reformieren, dass Fehlanreize, die zur Über- Unter- und Fehlversorgung beitragen, in allen Fächern abgestellt werden.


2. Die Einflüsse der Kommerzialisierung im ambulanten Sektor werden bislang nicht hinreichend adressiert. Das Eindringen von Finanzinvestoren in den ambulanten Versorgungssektor sowie die Übernahme von stationären Pflegewohneinrichtungen müssen umfangreicher reguliert werden.


3. In einem Gesundheitswesen, das den Menschen wieder in den Mittelpunkt rückt, braucht es gute und wertschätzende Arbeitsbedingungen für alle pflegerischen, medizinischen und therapeutischen Berufe. Dabei ist eine adäquate Personalausstattung Grundvoraussetzung. Durch das Gesundheitssystem zieht sich stationär wie ambulant aber ein Personalmangel. Unter anderem auch, weil die Arbeitsbedingungen immer schlechter werden. (2) Wir sehen die von Ihnen avisierte Akquise ausländischer Pflegekräfte im Kontext des weltweiten Bedarfes an qualifiziertem Gesundheitsfachpersonal im Kontext der von uns skizzierten Bedarfe dabei sehr kritisch.


Die Personaluntergrenzen in den Kliniken wurden während der Pandemie ausgesetzt. Personaluntergrenzen müssen aus unserer Sicht für alle Fachbereiche differenziert eingeführt und an den jeweiligen Versorgungsauftrag sowie die Krankheitslast der zu behandelnden Patient:innen angepasst werden. Personaluntergrenzen müssen immer als Mindeststandard verstanden werden, um eine Patient:innengefährdung zu vermeiden. Eine qualitativ gute Versorgung sowie gute Arbeitsbedingungen, erfordern oft mehr Personal als die Untergrenzen vorsehen. Eine gute Patient:innenversorgung gelingt aber nicht allein durch eine ausreichende Anzahl von Mitarbeiter:innen, es braucht auch gut qualifiziertes Personal.

4. Viele Angehörige der Gesundheitsberufe arbeiten nicht nur wegen der stetigen Überlastung in Teilzeit oder verlassen den Beruf ganz, sondern auch wegen der im Gesundheitswesen besonders schwierigen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Vor allem im Hinblick aufArbeitszeit, Kinderbetreuung und Personalplanung müssen die politischen Handlungsspielräume genutzt werden, um die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf im Gesundheitswesen zu verbessern. (3)


5. In Ihrem Sondierungspapier nehmen Sie keinen Bezug auf den dringenden Planungsbedarf in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung. Wenn perspektivisch jedoch keine neuen Kassensitze geschaffen werden sollten, dann braucht es zusätzliche ggf. auch sektorenübergreifende Versorgungskonzepte, um eine qualifizierte psychotherapeutische Versorgung der Patient:innen zu gewährleisten.


6. Die oft vergessene Berufsgruppe der Heilmittelerbringenden (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Podologie) leidet unter einer oftmals nicht mehr zeitgemäßen Ausbildungsqualität und schlechten Vergütung. Trotz Vergütungserhöhung in den letzten Jahren, sind sie laut Wirtschaftlichkeitsanalyse ambulanter Therapiepraxen (WAT-Gutachten 2018) in ihren Praxen immer noch nicht in der Lage hinsichtlich ihrer Leistungen wirtschaftlich zu arbeiten.(4) Um gerade im ambulanten Sektor eine gute Versorgung mit Heilmitteltherapien sicherzustellen, ist eine Verbesserung der Rahmenbedingungen seitens der Politik hier unerlässlich.


7. Die Qualität der Patient:innenversorgung wird nicht nur durch den weithin vorherrschenden Personalmangel im Gesundheitswesen gefährdet, sondern auch durch die vernachlässigte strategische Planung und Investitionen in die Infrastruktur der Daseinsvorsorge. Die Koalition sollte dafür Sorge tragen, dass die Länder ihren Verpflichtungen zur Krankenhaustrukturplanung und Investition in die Infrastruktur der Krankenhäuser nachkommen. Bei weiterhin ausbleibenden Landesmitteln muss seitens des Bundes gegengesteuert werden.


8. In der lange vernachlässigten Digitalisierung des Gesundheitswesens an sich liegen ebenso wie in der wissenschaftlichen Auswertung von Gesundheitsdaten Chancen für eine bessere, zielgerichtete medizinische Versorgung der Zukunft. Die zentrale Sammlung der Gesundheitsdaten und Weiterleitung an forschende Privatunternehmen stellt für Schutz und Sicherheit der Daten eine besondere Herausforderung dar. An Datenschutz und Datensicherheit der Gesundheitsdaten müssen aber allerhöchste Anforderungen gestellt werden, zählen diese doch zu den sensibelsten Informationen. Sie bergen ein hohes Missbrauchspotential und haben aus Sicht der Patient:innen kein „Verfallsdatum“. Sie verlieren nicht an Aktualität und im Falle der missbräuchlichen Nutzung finden naturgemäß auch Löschfristen keine Anwendung mehr.

Dem verantwortungsvollen Interessenausgleich zwischen Innovation und Datenschutz ist der Gesetzgeber bisher nicht hinreichend nachgekommen – wir fordern Sie daher dazu auf, diesem künftig besser Rechnung zu tragen.(5)


9. Die elektronische Patientenakte (ePA) ist seit dem 01.07.2021 verfügbar. Damit diese vollständig ist, müssen bisher analoge Daten übertragen werden. Wie dies in der Breite der Versorgung tatsächlich umgesetzt werden soll, ist für viele Mitarbeitende der Gesundheitsberufe noch weithin unklar. Damit die Digitalisierung einen tatsächlichen Mehrwert für das Gesundheitssystem bringt, müssen letztlich alle Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen hinreichende digitale Kompetenzen erwerben. Es braucht daher bundesweite Konzepte zur digitalen Alphabetisierung. Bislang fehlen auch Strategien zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) im Gesundheitswesen, obgleich in diesem Feld aber erhebliche Chancen, wie auch Gefahren für eine gelingende Digitalisierung liegen.


10. Im Gesundheitswesen arbeiten viele unterschiedliche Berufe zusammen. Es bedarf einer verbesserten Zusammenarbeit, da immer noch überwiegend in Einzeldisziplinen und Partikularinteressen gedacht, ausgebildet und agiert wird. So repräsentiert unter anderem die aktuelle Zusammensetzung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) als dem höchsten Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitssystem nicht alle Beteiligten der angestrebten multiprofessionellen Versorgung. Seitens der Politik muss die multiprofessionelle Steuerung und somit letztlich auch die Versorgung verbessert werden.


11. Der Wissenschaftsrat hatte bereits 2012 die Teil-Akademisierung von 10 bis 20 % eines Ausbildungsjahrgangs aller Gesundheitsberufe mit unmittelbarem Patient:innenbezug als sinnvoll erachtet, um die multiprofessionelle Versorgung langfristig zu optimieren. “Ferner sollten Studienangebote entwickelt werden, die für ausgebildete, erfahrene Kräfte attraktive Möglichkeiten zur akademischen Weiterbildung für spezialisierte patientenorientierte Aufgaben sowie für Tätigkeiten in der Lehre und im Gesundheitsmanagement eröffnen.“(6) Wir fordern zur Steigerung der Versorgungsqualität, für professionsbezogene sowie multiprofessionelle Forschungsprojekte und um Gesundheitsberufe für Viele attraktiver zu machen, an staatlichen Gesundheitsfakultäten eine gemeinsame akademische Ausbildung der Gesundheitsberufe.

12. Gesteigerte Nachfrage bei fehlender sektorenübergreifender Steuerung und einem rein linearen Versorgungskonzept führen in Notfallversorgung und Rettungswesen zu gravierenden Problemen in den Bereichen Kosten, Einsatzaufkommen und Personalbindung. Auch hier könnten akademisch ausgebildete Notfallsanitäter:innen und Pfleger:innen mit Bachelor und Masterabschluss neue eigenverantwortliche Rollen in der Akut- und Notfallversorgung übernehmen. In diesem Sinne appellieren wir auch, die schon seitens der letzten Regierung angestrebte Reform der Notfallversorgung neu zu denken und dann zu realisieren.


13. Eine gute individuelle Gesundheit steht im Kontext mit der Gesundheit des Planeten. Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, ist die CO2-Neutralität aller Sektoren erforderlich. Auch die Einrichtungen des Gesundheitswesens müssen sich an diesem Transformationsprozess beteiligen. Dafür sind politische Rahmenbedingungen und Finanzierungskonzepte notwendig, die diese unterstützen und beschleunigen.
Wir bitten Sie, zu den von uns hier nur angerissenen Problemfeldern des Gesundheitswesens mit uns und anderen Akteur:innen des Gesundheitssystems in Dialog zu treten. Die Mitglieder des Twankenhaus e.V. arbeiten Tag für Tag im Gesundheitswesen oder sind selbst Patient:in. Unsere Forderungen und Ideen werden nicht nur für eine Berufsgruppe entwickelt. Sie sind an den Bedürfnissen der unterschiedlichen Gesundheitsberufe ebenso wie der Patient:innen orientiert.


Gemeinsam mit uns kann es Ihnen gelingen, die Vision eines guten Gesundheitswesens zu entwickeln und umzusetzen, indem alle Gesundheitsberufe auf Augenhöhe und zusammen für die bestmögliche Patient:innenversorgung arbeiten.


Katharina Bröhl       Sebastian Kraatz      Katharina Thiede 

1. Vorsitzende          2. Vorsitzender         3. Vorsitzende

 

(1)Das Positionspapier des Twankenhaus e.V. “Thesenpapier des Twankenhaus e.V. zur zunehmenden Kommerzialisierung und fehlgeleiteten Ökonomisierung des Gesundheitswesens” finden Sie unter: https://twnknhs.de/2020/09/18/thesenpapier-des- twankenhaus-e-v-zur-zunehmenden-kommerzialisierung-und-fehlgeleiteten-okonomisierung-des-gesundheitswesens/
(2) Das Positionspapier des Twankenhaus e.V. #WunschUndWirklichkeit mit Analysen und Verbesserungsansätzen zu den Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen finden Sie unter: https://twnknhs.de/wp- content/uploads/2019/10/Positionspapier-Wunsch-und-Wirklichkeit-2019.pdf

(3) Das Positionspapier des Twankenhaus e.V. #Vereinbarkeit finden Sie unter: https://twnknhs.de/wp- content/uploads/2019/11/Positionspapier-Vereinbarkeit.pdf
(4) WAT-Gutachten veröffentlicht (ifk.de)
(5) Das Positionspapier des Twankenhaus e.V. “#GesundeDigitalisierung – die Perspektive des Twankenhaus e.V” für eine gelungene Digitalisierung im Gesundheitswesen finden Sie unter: https://twnknhs.de/wp- content/uploads/2021/04/Positionspapier-GesundeDigitalisierung-2021.pdf
(6) Wissenschaftsrat (2012): Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen (Drs. 2411-12)

https://twankenhaus.de/wp-content/uploads/2021/10/Offener-Brief-zu-den-Reformbedarfen-im-Gesundheitswesen-des-Twankenhaus-e.V..pdf