Wir müssen Reden ….. ein Plädoyer für die Reflexion bei der Wahl der ärztlichen Therapie

22. September 2020

Häufig werden Ärzt:innen – manchmal ernsthaft, manchmal im Scherz – als Handwerker:innen bezeichnet, entsprechende etwas despektierliche Bezeichnungen sind etwa die Knochen- oder Seelenklempner:in.

Wenn man diesen Gedankengang nun etwas weiter denkt, so kann man schon Analogien in der Arbeit einer Handwerker:in oder einer Ärzt:in feststellen.

So kommt eine Fließenleger:in in das Bad der Kund:in und stellt fest, das fünf der blauen Kacheln von der Wand gefallen sind (Diagnose) und nach Vorbereitung des Untergrundes werden diese Kacheln wieder an die Wand geklebt (Therapie).
Wer in dieser Beschreibung nun aber eine umfassende Analogie zum ärztlichen Berufes sieht, der hat das Wesen dieser Profession nach meiner Überzeugung nicht ausreichend begriffen.

Hier gibt es nämlich ein wesentlicher Zwischenschritt zwischen der Diagnose und der Therapie, das ist die Reflexion.

Die Reflexion darüber, welche der für eine bestimmte Diagnose zur Verfügung stehenden Therapien für eine individuelle Patient:in die angemessene, die geeignetste ist, vielleicht auch die etwas weniger geeignete, dafür aber körperlich weniger belastende; Reflexion auch über die körperlichen und seelischen Ressourcen der Patient:in, ihre oder seine Wünsche oder Ängste und den Einfluss der persönlichen Situation auf die Therapiemöglichkeiten

Hier abzuwägen, zusammen mit der Patient:in einen für ihn oder sie richtigen Weg zu beschreiten, sie oder ihn an der möglichen Gabel zwischen chirurgischer und konservativer, zwischen kurativer oder vielleicht doch palliativer Therapieoption zu beraten und die Kranken dann in ihrer Entscheidung zu begleiten und natürlich bestmöglich zu therapieren…. dieses Auswählen, Abwägen und Begleiten der Patient:innen auf ihrem Weg zur und in der Behandlung ist eine unverzichtbare Facette meines Berufes.

Nach meiner Überzeugung macht die gut oder weniger gut ausgebildete Fähigkeit zur Reflexion über die unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten im konkreten Behandlungsfall den Unterschied aus zwischen einer passablen Mediziner:in und einer guten oder sehr guten Ärzt:in.

Die gute Mediziner:in hat sein oder ihr Fach gelernt, hält sich durch Fortbildung in ihrem und seinem Bereich immer auf dem Laufenden und wehrt sich permanent dagegen in der mächtigen Welle der einstürmenden neuen Erkenntnisse unterzugehen und den Anschluss zu verlieren.

Die gute Ärzt:in muss all dies auch tun; eine gute Mediziner:in zu sein ist die Voraussetzung dafür, mit Patient:innen souverän, kompetent und ohne paternalistischen Ductus über deren Krankheit sprechen zu können.

Die gute Ärzt:in vermag die oft sehr komplizierte Diagnose und Prognose der Patient:in begreiflich zu machen durch die Auswahl anschaulicher Beschreibungen und Bilder, die den riesigen Wissensvorsprung der Ärzt:in überbrücken helfen ohne allerdings den Sachverhalt soweit zu vereinfachen, dass die Wahrheit verloren geht oder verbrämt wird.

Wenn dieser Vorgang gelingt, kann Vertrauen entstehen und in einem wechselseitigen Prozess mit der Patient:in zusammen über die bestehenden Therapieoptionen reflektiert und die für die Patient:in passende ausgewählt werden.

Wenn dieser beschriebe Vorgang gelingt – und natürlich gelingt er nicht immer – kann der Beruf der Ärzt:in auch in der Behandlung sehr schwerer Krankheitsbilder sehr erfüllend sein.

Wird dieser Prozess entsprechend seiner Wichtigkeit ernst genommen, so benötigt er jedoch etwas, was in einem kommerzialisierten Gesundheitswesen nicht mehr honoriert wird, nämlich ein von Fall zu Fall durchaus sehr unterschiedliches Zeitkontingent.

Er benötigt auch Vorbilder von ärztlicher Haltung während der Weiterbildung und darüber hinaus, um sich immer wieder bewußt zu machen, dass ärztliches Handeln eine Dimension haben muss, die über die Einhaltung des standardisierten Behandlungspfads, die Unterschreitung der oberen Grenzverweildauer oder – im ambulanten Bereich – die möglichst exakte Ausnutzung des Budgets hinausgeht.

Viele junge ärztliche Kolleg:innen, die ihre Karriere im Krankenhaus beginnen, haben nach meiner Beobachtung eine sehr gute Vorstellung von ärztlicher Haltung, die sie erlernen und dann auch leben wollen.

Viel zu viele dieser jungen Menschen werden dann von den ökonomisierten Prozessen eines modernen Krankenhauses überwältigt, von den feststehenden Abläufen, dem Mantra die Liegezeiten so kurz wie möglich zu halten und vor allem auch der im DRG-System angelegte Bevorzugung einer gut bezahlten Intervention gegenüber der Einleitung einer schlecht bezahlten und langwierigen konservativen Therapie.

Die Folge für die jungen Kolleg:innen ist Enttäuschung, Frust….häufig Rückzug und der Verdacht, dass die Vorstellung von Ärztlicher Haltung, mit der sie ihren Beruf gewählt haben, in der Wirklichkeit nur eine romantisierte, vielleicht sogar kitschige Illusion war und der Beruf der Ärzt:in eben in Wirklichkeit dem der Fliesenleger:in doch sehr ähnlich ist.

Ich wünsche mir, dass alle, die verstehen, wovon ich hier schreibe aufstehen und sagen, nein, das ist kein weltfernes Gequatsche, die Alten und die Jungen müssen zusammen dafür werben, dass Medizin wieder mehr sein soll, als einer Diagnose mit einer möglichst viel Gewinn bringenden aber eben manchmal völlig sinnfreien Therapie zu begegnen.

Die therapeutische Situation aus Patient und allen Gesundheitsberufen muss wieder im Zentrum des Prozesses stehen, nicht in erster Linie die ökonomische Situation mit der Aufrechnung von Erlösen gegen Kosten.

Über Jahrzehnte haben alle Gesundheitspolitiker und Ärzte darüber schwadroniert, die „sprechende Medizin“ zu stärken. In den gleichen Jahrzehnten ist der Anteil, den eine Ärzt:in persönlich mit jeder einzelnen Patient:in verbringt, immer kürzer geworden, weil die therapeutische Beziehung immer radikaler den ökonomischen Prozessen unterordnet wird.

Als Neurochirurg möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Entwicklung der therapeutischen Beziehung eben nicht nur in der Allgemeinmedizin oder der Psychotherapie wichtig ist, sondern für alle anderen Gebiete auch fundamental ist, dass also auch die sogenannten „technischen“ klinischen Fächer sich in gleicher Weise nach einer veränderung der Situation sehnen

Machen wir uns zusammen auf zu kämpfen für ein Gesundheitssystem, in dem wir gute therapeutische Entscheidungen für eine gute Therapie zusammen mit den Patient:innen treffen können.

Ob das bestehende System in diese Richtung reformierbar ist, erscheint mir derzeit offen.

Aber es ist unser Beruf wer, wenn nicht wir soll es denn sonst versuchen?

Julian Veelken

Arzt für Neurochirurgie

FrAktion Gesundheit in der Ärztekammer Berlin