Mainzer Erklärung des Twankenhaus e.V. vom 21.09.2019

23. Februar 2020

Das Twankenhaus tritt für ein grundlegend reformiertes Gesundheitswesen ein, das bestmögliche Rahmenbedingungen für eine menschliche Medizin bietet. Die Entscheidungen der Gesundheitspolitik müssen sich dabei an den Bedürfnissen der Patient*innen ausrichten.

In einem Gesundheitswesen, das den Menschen wieder in den Mittelpunkt rückt, braucht es auch gute und wertschätzende Arbeitsbedingungen für alle medizinischen und therapeutischen Berufe. Dabei ist eine adäquate Personalausstattung Grundvoraussetzung.

Die verschiedenen Gesundheitsberufe sollen in flachen Hierarchien interprofessionell auf Augenhöhe zusammenarbeiten können. Die wertschätzende Zusammenarbeit der Heilberufe ist aber nicht nur im medizinischen Alltag elementar, sondern auch in der Reflektion und Qualitätssteigerung des Gesundheitswesens an sich vorauszusetzen.

Das Twankenhaus ist eine unabhängige Organisation, die mit ihren Ideen, Konzepten und Forderungen im Gesundheitswesen in den Dialog tritt und so die Positionen und Handlungen der Entscheidungsträger beeinflussen soll. Die Konzepte unseres Think Tanks sind dabei nicht nur an die Politik adressiert, sondern auch an die Einrichtungen des Gesundheitswesens selbst. Zur Wahrung unserer Unabhängigkeit übernehmen wir aber keine individuell beratenden Funktionen.

Das Twankenhaus bindet im Rahmen der interdisziplinären Arbeit auch die Perspektive der Patient*innen mit ein. Damit geht es mit seinem teilöffentlichen Diskurs in den Kontext einer sozialen Bewegung im Gesundheitswesen über.

Ein Gesundheitssystem, das von einer interprofessionellen und menschlichen Arbeit getragen wird, ist in vielen Bereichen noch eine Utopie. Um diese Utopie Realität werden zu lassen, müssen folgende Handlungsfelder dringlich adressiert werden.

Multiprofessionelle Zusammenarbeit als Grundlage guter Medizin

Für das Wohlergehen der Patient*innen ebenso wie der Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen ist die wertschätzende Zusammenarbeit auf Augenhöhe in einem multiprofessionellen Team, das diese Bezeichnung auch verdient, unerlässlich.

Ein respektvolles interprofessionelles Miteinander erfordert einerseits Kenntnisse über Kompetenzen und Aufgaben der anderen Berufe, weshalb bereits in der Ausbildung das Fundament für gelebte Multiprofessionalität gelegt werden muss. Andererseits braucht es Zeit und Raum für den fachlichen Austausch, den beispielsweise multiprofessionelle Visiten und Fallbesprechungen bieten können.

Nicht nur in der eigentlichen Patientenversorgung muss Multiprofessionalität gelebt werden, sondern auch in den Mitarbeiter- und Standesvertretungen. Voraussetzung hierfür ist die gleichberechtigte Vertretung der Professionen in vergleichbaren Strukturen. Die Durchsetzung von Partialinteressen muss vor dem übergeordneten Ziel eines Gesundheitswesens, das allen seinen Mitarbeiter*innen gleichermaßen gerecht wird, zurücktreten.

Menschliche Medizin ruht auf breiten Schultern

Eine menschliche Medizin, die Patient*innen wieder in den Mittelpunkt rückt, kann nur gelingen, wenn die Mitarbeiter*innen als tragende Säule der Patientenversorgung wertgeschätzt werden, und auch in ausreichender Zahl vorhanden sind. Personaluntergrenzen müssen daher für alle Berufe im Gesundheitswesen gelten und sollen in ein Anreizsystem zur Qualitätsverbesserung eingebettet sein, in dem Abteilungen bzw. Kliniken bei Übertreffen der Qualitätsgrenzen u.a. durch eine bessere Vergütung ihrer Arbeit belohnt werden.

Dabei besteht aus unserer Sicht kein Mangel an Menschen, die sich für einen medizinischen Beruf begeistern können. Vielmehr haben sich die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen so verschlechtert, dass intrinsische Begeisterung und von außen erwartete Leidensfähigkeit in keiner vertretbaren Relation mehr stehen. Eine gute Patientenversorgung gelingt aber nicht allein durch eine ausreichende Anzahl von Mitarbeiter*innen, es braucht auch gut qualifiziertes Personal.

Entbürokratisierung

Bürokratische Prozesse können der Patientensicherheit dienen und sind daher in vielen Fällen notwendig und begrüßenswert. Schon längst hat sich der berufliche Alltag der meisten Gesundheitsberufe aber dahin entwickelt, dass mehr Zeit für bürokratische Prozesse als für die eigentliche Patient*innenversorgung aufgewendet werden muss.

Tendenzen einer überbordenden Bürokratisierung, die allein ökonomischen oder medikolegalen Aspekten geschuldet sind, müssen begrenzt werden. Abläufe und Strukturen müssen regelmäßig reflektiert und unnötige Bürokratie abgebaut werden. Soweit es medizinisch sinnvoll ist, sollten bürokratische Prozesse auf entsprechend geschultes Verwaltungspersonal übertragen werden, so dass sich das medizinische Personal wieder vornehmlich seinen eigentlichen Aufgaben widmen kann.

Ausrichtung an evidenzbasierter Medizin muss selbstverständlich sein

Das medizinische Wissen entwickelt sich immer schneller weiter. Umso wichtiger ist ein uneingeschränkter Zugang zum aktuellen Stand des medizinischen Wissens für die Mitarbeiter*innen der Gesundheitsberufe. Patient*innen müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Behandler*innen Diagnostik und Therapien am aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft ausrichten.

Wir distanzieren uns auch klar von pseudowissenschaftlichen Therapien, welche Patient*innen verunsichern und teilweise sogar Schaden anrichten können.

Um eine unabhängige medizinische Forschung zu gewährleisten, bedarf diese einer noch stärkeren gesellschaftlichen Förderung mit transparenter Finanzierung, beispielsweise aus öffentlichen Mitteln. Auch die Offenlegung von Negativergebnissen oder Gründen für einen vorzeitigen Studienabbruch muss gewährleistet sein.

Gesundheitsbildung

Die Medizin hat sich schon vor vielen Jahren dahingehend verändert, dass Patient*innen nicht mehr mit dogmatischen Behandlungskonzepten ihrer Ärzt*innen konfrontiert werden, sondern vielmehr partizipative Entscheidungen getroffen werden sollen. Es gilt die Maxime des „aufgeklärten Patienten“.

Diese Maxime ist richtig und wichtig, setzt aber zugleich eine intensive Aufklärung und auch Gesundheitsbildung der Patient*innen voraus. Medizinisches Halbwissen steht Patient*innen über die unterschiedlichsten Medien zur Verfügung und kann nicht nur zu Verunsicherung führen, sondern sie, schlimmstenfalls gar von indizierten Behandlungen fernhalten. Zudem überfordert diese Verunsicherung das Gesundheitswesen mit fehlgeleiteten Patientenströmen und gefährdet das Vertrauen in die Medizin, das notwendig für eine gute Behandlung ist.

Die Gesundheitsbildung der Patient*innen muss daher deutlich verbessert werden und sollte auch bereits in den Lehrplänen der Schulen verankert werden. Patient*innen brauchen leichten Zugang zu evidenzbasierten und seriösen Gesundheitsinformationen.

Digitalisierung

In der Digitalisierung liegen Chancen, um den Herausforderungen von medizinischer Unterversorgung, Arzneimitteltherapie- und Patientensicherheit oder der Therapietreue besser gerecht zu werden. Der Zugang zu medizinischem Wissen sollte ebenso erleichtert werden wie die Kommunikation zwischen den Professionen und Sektoren. Gleichzeitig müssen Lösungen für technische Barrieren und gigantische Datenmengen gefunden werden sowie die digitalen Kompetenzen von Behandler*innen und Patient*innen gestärkt werden.

Die Beziehung zwischen Behandler*innen und Patient*innen ändert sich durch die Digitalisierung grundlegend und die damit einhergehenden Risiken müssen bedacht werden. Eine mögliche Effizienzsteigerung durch digitale Versorgungsstrukturen darf nicht zu Lasten von Zuwendung und Empathie der realen Mitarbeiter*innen gehen.

Das Gesundheitswesen der Zukunft wird ungleich mehr als heute auf digitalen Strukturen ruhen. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, daher ist es die Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass die Gestaltung der Digitalisierung höchsten Ansprüchen an den Schutz der sensiblen Gesundheitsdaten Rechnung trägt. All dies kann nur gelingen, wenn auch in einem digitalisierten Gesundheitswesen die Interessen von Patient*innen und Mitarbeiter*innen schwerer wiegen als wirtschaftliche Erfolge.

Damit die Chancen die Risiken überwiegen und die Digitalisierung auf breite Akzeptanz trifft, ist es Aufgabe der Gesundheitsberufe, die Digitalisierung kritisch und konstruktiv zu begleiten.

Faire Finanzierung der Daseinsfürsorge

Medizin muss sich in allen Professionen zuvorderst an ethischen Grundsätzen ausrichten. Dementsprechend muss die fehlgeleitete Gewinnmaximierung in allen Sektoren des Gesundheitswesens dringlich gestoppt werden.

Die Ressourcen sind ebenso wie anderorts begrenzt und müssen daher sinnvoll und effizient verteilt werden. Gerade öffentliche Träger müssen sich ihrer Verantwortung für die Daseinsvorsorge der Bürger*innen stellen und dürfen sich nicht aus dem Betrieb von Einrichtungen des Gesundheitswesens zurückziehen. Der Investitionsstau im Gesundheitswesen muss dringend abgebaut und seitens der Politik auch in Zukunft verhindert werden. Bei den Investitionen im Gesundheitswesen ist die Nachhaltigkeit als ein zentrales Kriterium zu definieren.

Nachhaltigkeit

Eine gute individuelle Gesundheit steht im Kontext mit der Gesundheit des Planeten. Menschen leben nicht losgelöst von der Natur, sondern im Gleichgewicht mit einer gigantischen Vielfalt anderer Arten. Die Folgen der Klimakrise gehen mit konkreten Gesundheitsfolgen wie einer Zunahme von Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen, Allergien oder Infektionskrankheiten einher. Global betrachtet kommen Dürre, Hunger und die psychischen Folgen durch die dramatische Veränderung oder gar den Verlust von Lebensräumen hinzu. Umgekehrt hat eine klimafreundliche Lebensweise positive Einflüsse auf die individuelle Gesundheit.

Die Gesundheitsberufe haben die Aufgabe über die Zusammenhänge von planetarer und individueller Gesundheit sowohl im direkten Kontakt mit Patient*innen und Kolleg*innen als auch, soweit möglich, öffentlich aufzuklären und den Ressourcenverbrauch im Gesundheitswesen unter ökologischen Aspekten zu überprüfen und zu begrenzen. Nachhaltigkeit muss als Grundlage aller Entscheidungen fest verankert sein.

Das Twankenhaus tritt für ebendiese Ziele ein und entwickelt im multiprofessionellen Diskurs konkrete Empfehlungen für ein patienten- und mitarbeiterorientiertes Gesundheitssystem.