Wer kann sich noch daran erinnern, wie es war, als man in seine Kamera einen Film eingelegt hat, um dann zu überlegen, was man fotografieren möchte? Abwägen, ob dieses oder jenes Motiv? Weil man doch auf die Klassenfahrt nur zwei Filme mitgenommen hatte.
Dann hat man sich riesig auf die entwickelten Filme gefreut und gespannt geschaut, welche Fotos auch etwas geworden sind. Die guten Bilder wurden dann in ein Album geklebt oder Abzüge für die Freund*innen gemacht.
Heute macht man ein Foto mit dem Handy. Wenn es nicht perfekt ist, dann macht man einfach noch eins. Manchmal macht man auch direkt „zur Sicherheit“ viele Bilder, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass auch gelungene dabei sind.
Löschen will man die nicht so Guten später. Wenn man mal Zeit hat.
Will man dann später ein digitales Album machen, braucht man Tage, um die besten Bilder auszuwählen. Das ist so aufwändig (schließlich sind es tausende von Fotos), dass man erst mal keine Zeit hat, um auch noch die nicht so guten Fotos zu löschen. Am Ende entsteht ein wunderschönes digitales Album (mit besseren Bildern als in den alten analogen Alben), in das man viele Stunden Zeit investiert hat und es sammeln sich 1000ende Gigabyte Fotos aus den vergangenen Jahren auf dem Rechner. Was bleibt, ist auch eine Restunsicherheit, ein wunderschönes Foto verpasst zu haben.
So und nun der vielleicht hinkende, aber nicht unpassende Vergleich zur digitalen Gesundheitsakte der Zukunft:
Man stelle sich einen Hausarztwechsel vor (z. B. nach einem Umzug oder weil der/die Hausärzt*in in Ruhestand gegangen ist). Die meisten Patient*innen bringen ihre Unterlagen mit: Medikamentenplan oder einfach die Tabletten. Impfausweis und letzte Laborwerte. Man macht eine ausführliche Anamnese und vielleicht lassen sich auch noch alte Krankenhausberichte finden.
In Ausnahmefällen, wenn Patient*innen eine lange und komplizierte Krankengeschichte haben, bringen diese einen ganzen Aktenordner mit. Ärzt*in und Patient*in ist gleichermaßen klar, dass das nicht in den ersten Kontakten zu überblicken ist. Diese „erfahrenen“ Patient*innen haben meist schon eine Vorauswahl getroffen. Wichtiges und aktuelles nach vorne sortiert. Zentral ist eigentlich immer die Anamnese.
Man kopiert / scannt die letzten Befunde und legt sie in die Akte.
Das Bild ist nicht perfekt, aber überschaubar.
Und künftig?
Ein Patient kommt neu in die Praxis. Befunde bringt er nicht mit. Die sind schließlich alle in der digitalen Akte hinterlegt. In der hat sich einiges angesammelt. Denn wie bei den Fotos hebt man alles auf. Es könnte doch irgendwann wichtig sein.
Die elektronische Gesundheitsakte ist also selbst bei nicht so kranken Patienten relativ voll. Und für den Hausarzt ist es nun ganz schön schwierig zu überblicken, was „richtig wichtig“ und was lediglich „gut zu wissen“ oder nur gar in die Kategorie „einfach mal aufheben“ fällt.
Die elektronische Akte hat einen immensen Informationsgehalt, aber es braucht sehr viel Zeit, all diese Informationen zu sichten und zu werten. Auch bleibt eine Rest-Unsicherheit, ob einem nicht doch etwas Wichtiges entgangen ist.
Dabei geht mit der Digitalisierung doch die Erwartung einher, dass nun alle wichtigen Gesundheitsinformationen jederzeit für alle Ärzt*innen zugänglich sind.
Manche die darüber sprechen oder schreiben, wie mit all den Informationen umgegangen werden soll, die in der elektronischen Akte sind, haben die Haftungsfragen im Blick: können Ärzt*innen für Informationen, die in der Akte sind und die ihnen nicht aufgefallen sind, aber für den Behandlungsverlauf wichtig gewesen wären, haftbar gemacht werden? Fälle, in denen es um Haftbarkeit geht, sind glücklicherweise nicht das gros der Arzt-Patienten-Kontakte.
Aber es geht um Missverständnisse, um geweckte Erwartungen, die enttäuscht werden. Und das auf beiden Seiten.
Was sind also die Voraussetzungen dafür, damit die digitale Akte ihre Versprechen einlöst?
Zuallererst: Keinem nützt eine digitale Akte, die am Ende nichts mehr ist als eine Cloud-Lösung für ein buntes Potpourri an PDF-Dokumenten. Nützlich wäre eine Akte, wie viele von uns sie aus dem Krankenhaus kennen. Laborwerte werden – egal von wem erhoben – in eine gemeinsame Maske und Übersicht eingepflegt. Erhobene Befunde werden systematisiert und nicht nur chronologisch angeordnet. Eigentlich müsste aus jedem Befund die festgestellten Diagnosen ICD-10-kodiert in die Akte aufgenommen werden. Wobei nachvollziehbar bleiben muss, wann eine Diagnose von wem gestellt wurde. Die hohe Kunst wird der digitale Medikamentenplan sein. Eigentlich bräuchte jede Verordnung eine Art Signatur, so dass nachvollziehbar ist, wer die initiale Verordnung oder das Absetzen entschieden hat. Vielleicht sogar mit verpflichtender Begründungs-Notiz.
Viel schwerer als das Sammeln von Befunden ist das Löschen nicht (mehr) relevanter Daten. Aber genau das muss sichergestellt sein. Die richtige Diagnose zu stellen ist zentrales Element der ärztlichen Kunst. Aber auch Falsifizieren ist essenziell für die Patientensicherheit.
Eine digitale Patientenakte kann unter all diesen Voraussetzungen einen wertvollen Beitrag für die Patientensicherheit leisten. Klar ist aber auch, dass die Ausgestaltung einer gut lesbaren, kompatiblen, geordneten Akte zeitintensiv ist. Eine kluge KI sollte die Aktenführung unterstützen. Medizinisches Personal muss leichten Zugang zu Fortbildungen erhalten und die vor allem anfangs deutliche Zeitbelastung muss in Personalschlüssel und Vergütung abgebildet werden.