Der Fluch der Digitalisierung oder die Rettung durch Apple

19. Februar 2020

Während der letzten zwei Stunden eines 24-Stunden-Dienstes liegt man normalerweise noch im Bett, manchmal, wenn die Nacht ungemütlich war, liegt man auch wieder im Bett. Umso schwerer kommt man hoch, wenn der Melder geht und damit einen neuen Notfalleinsatz signalisiert. So war es also um kurz vor sechs Uhr am Morgen und weil ich meine Augen um diese Zeit noch nicht richtig scharf stellen kann, lese ich erst nach dem Anziehen, was uns erwarten könnte. Denn nach vielen Jahren im Rettungsdienst ist klar, dass die gemeldeten Stichworte zum Einsatz häufig nur grobe Schätzungen sind.

Jedenfalls lautete der Alarmierungstext auf einen vermeintlichen Schlaganfall, nicht ungewöhnlich und nicht spektakulär für uns, natürlich aus Patientensicht ein bedrohliches Geschehen. Der Notfallort war nur wenige Minuten entfernt und auf dem Weg dorthin informierte uns die Leitstelle, dass die Patientin alleine zu Hause ist, aber noch die Balkontür für uns geöffnet hat. Das ist eine wichtige Information, da wir sonst wertvolle Minuten verschwenden, um nach einem geeigneten Zugang zur Wohnung bzw. zum Haus suchen müssen.

An der Adresse angekommen nahmen wir unser Material aus dem Rettungswagen und begaben uns durch den Garten in die Wohnung, wo die junge Patientin nackt mit nassen Haaren im Wohnzimmer auf dem kalten Holzfußboden lag. Die Wohnung war zwar beheizt, aber wenn Sie sich mal im Sommer auf den Fußboden legen, merken Sie, wie schnell ein gesunder Körper auskühlt.

Die Frau sprach sehr schlecht, da durch die Durchblutungsstörung im Gehirn offenbar auch das Sprachzentrum betroffen war, aber langsam und mit großer Mühe konnte sie uns erklären, dass sie schon den vierten Schlaganfall erleidet und wo wir ihre Unterlagen dazu finden können. Während also mein Kollege sofort den Wärmeerhalt sicherstellte, machte ich mich am beschriebenen Ort auf die Suche nach Unterlagen und Medikamenten, die ich auch dort fand. Was mir noch auffiel, war das sich in der Ladeschale befindliche Festnetztelefon und das am Stromkabel angeschlossene Handy, deutlich zu weit von der Patientin entfernt, als dass sie es dort nach dem Notruf wieder ordentlich zurückgestellt hätte. Außerdem machte ich in der Dusche das Radio aus, stellte die Heizung und das Licht aus und schloss die Türen.

Nach einer kurzen Versorgung vor Ort, die sich bei einem Schlaganfall bzw. dem Verdacht darauf beschränkt, dass die Vitalparameter erhoben werden und eine Venenverweilkanüle samt Infusionslösung angelegt werden, um so schnell wie möglich eine Stroke-Unit anzufahren, trugen wir die Patientin zur Trage und fuhren sie dann in den Rettungswagen. Mein Kollege nahm vorne Platz und ich blieb bei der Patientin.

Die Fahrt würde etwa 30 Minuten dauern, also blieb genug Zeit für Papierkram und ein Gespräch mit der jungen Patientin, die sichtlich um Fassung rang, da sie spürte, dass eine Körperseite und ihre Sprache nicht taten, was sie wollte. Dennoch schien es sich unterwegs zu bessern, was die Patientin auch bemerkte und darüber natürlich sehr froh war.

Die Kommunikation mit Patienten, die nicht (mehr) richtig sprechen können, ist schwierig und beschränkt sich meist auf geschlossene Fragen und Gesten, daher versuchte ich der Frau zu erklären, was wir gerade tun, was als nächstes geschieht, auch wenn sie das schon mehrfach durchgestanden hatte. Nach und nach konnte sie sich deutlicher und besser ausdrücken und so hatten wir die letzten zehn Minuten ein normales Gespräch ohne große Einschränkungen, also nutze ich die Gelegenheit und fragte sie, wer denn den Notruf alarmiert hatte, denn sie lag ohne Telefone auf dem Fußboden.

Sie berichtete, dass sie zur Frühschicht im Altenpflegeheim immer gegen 5 Uhr aufstand, duschte, einen Kaffee trank und sich dann auf den Weg zur Arbeit machte. Unter der Dusche wurde ihr plötzlich schwindelig und zwar in der Form, die sie schon von einem der früheren Schlaganfälle kannte. Also ging sie aus der Dusche, öffnete erst die Balkontür, um dann auf dem Weg zum Telefon bereits zu stürzen und nicht mehr aufstehen zu können. Dann verlor sie kurz das Bewusstsein und wurde wach, als wir die Wohnung betraten.

Ihre Rettung war die genau für solche Situationen angeschaffte Apple-Watch, die so programmiert ist, dass bei einem Sturzereignis nach einer kurzen Wartezeit von ca. einer Minute der Notruf angewählt wurde und mit einem vorgefertigten Text Hilfe geholt wurde. Das führte dazu, dass wir schon wenige Minuten nach dem Ereignis vor Ort waren und die Therapie sehr schnell begann. Ohne diese Uhr hätte die allein lebende Frau irgendwie zum Telefon kriechen müssen, denn laut rufen konnte sie nicht. Sie war sehr glücklich, dass diese Funktion, die sie natürlich vorher nicht testen konnte, mutmaßlich ihr Leben gerettet hat.

Auch wenn diese Geräte viele Daten sammeln und auswerten, scheint die Rettung eines einzigen Lebens dies irgendwie zu rechtfertigen, denn das hat an diesem Tag einfach gut funktioniert.

Basti8000