Dazwischen

16. Februar 2020

Ich bin aus der Generation dazwischen. Die Eltern sind in der analogen Welt aufgewachsen, die Kinder können mit wenigen Monaten Wischbewegungen, kennen Siri und Alexa und haben handydaddelnde Eltern. Als ich Kind war, gab es einen Fernseher mit überschaubaren Programmen in schwarz-weiß. Den ersten Kontakt zu einem Computer hatte ich irgendwann in der Pubertät, der war für Pacman und Tetris da. Mit 18 habe ich damit Bewerbungen geschrieben, ausgedruckt und irgendwohin verschickt. Auf Disketten gespeichert. Internet kam für mich erst ein paar Jahre später. Das erste Handy hatte ich mit 19, damit ich meine Eltern im Falle eines Autounfalls anrufen könnte. Ich begann ein Studium, an dessen Anfang ich beim Einschreiben unter anderem unterschrieb, dass ich die Schweigepflicht wahren würde.

Mit Anfang zwanzig nahm das mit dem Internet Fahrt auf. Ein paar Jahre war es etwas sehr Langsames, mit dem ich Musik runterladen konnte. Ich hatte ein Laptop, konnte das ein- und ausschalten, und irgendwann konnte ich mit Google auch Sachen suchen.
Dann ging es im Sekundentakt. Immer schneller, immer mehr, immer besser. Neues Laptop, neues Handy, neue Informationen.

Ich wusste weiterhin Anschalten, Ausschalten, Office und Google.
Nach dem für mich irrsinigen und so gerade bestandenen Naturwissenschaftsopus namens Physikum kamen Kurse mit echten (und lebenden!) Menschen.
In den meisten Kursen wurden wir wiederholt darauf hingewiesen, dass das, was wir erfahren und erzählt bekommen würden, unbedingt ein Geheimnis zwischen uns und dem Schlafanzugmenschen vor uns bleiben müsse. Der Patient müsse sich darauf verlassen können, dass das, was er uns mitteilte, unter keinen Umständen an jemanden außerhalb dieses gemeinsamen Kosmos von Patient und Arzt weitergegeben würde. Zwischen mir und dem Patienten gab es also ein gemeinsames Geheimnis, und das handelte auch noch vom Persönlichsten, was man so hat: dem eigenen Körper. Ich hatte -und habe- ein Gefühl von Ehrfurcht und Dankbarkeit.

Parallel dazu tauchte etwas namens Facebook auf. Das interessierte aber niemanden, insbesondere nicht mich. Auf Anregung einer Kommilitonin sollte ich mich dort anmelden. Ich saß mit großen, ungläubigen Augen vor dieser völlig undurchsichtigen, blau-weißen Aneinanderreihung von Banalitäten. Wer würde wissen wollen, ob mir in der U-Bahn gerade langweilig ist oder dass ich bei Starbucks eine dekaffeeinierte Grande Latte getrunken habe. Zwischen mir und dieser aufdringlichen Mitteilungswelt stand eine unüberwindbare Mauer. Ich klappte mit tief empfundenem Unverständnis das Laptop wieder zu.

Irgendwann war das Studium zuende und das Klinikleben begann. Das mit dem Computer zuhause ging ein bisschen besser, ich konnte schon was im abgesicherten Modus wieder hochfahren, wusste was von Firewalls und dass zunehmend Alltagsgegenstände wie Waagen, Autos und Backöfen Eigenschaften kleiner Computer annahmen. Zuhause auf dem Computer und im Netz raste alles in Lichtgeschwindigkeit, unfassbare Datenmengen, darunter auch ein unüberschaubarer Anteil an Datenmüll. DIGITALISIERUNG war auf einmal eine Leuchtreklame, ein hype, ein place to be, das It-Girl des Weltgeschehens. Nichts war richtig gut, wenn es nicht digital war. Intuitiv sollten die Sachen sein, wenige Klicks,„anwenderfreundlich“. Ich fand das alles überfordernd, aber super. Einfacher, schneller, unverzichtbar, und vor allem immer mit der Aussicht, dass das hier wahrscheinlich erst der Anfang wäre. Die Mauer zwischen mir und dem Facebook-Account bröckelte.

Im Krankenhaus jedoch gab es diesen Prozess nicht, oder nur mit mehreren angezogenen Handbremsen. Die Krankenhaussoftware war langsam, umständlich und unlogisch, und vor allem fehlte meistens die Hälfte der Funktionen, weil aus Kostengründen leider nicht alle Module eines Programms gekauft werden konnten. Klinikmitarbeiter sind ja keine IT- Experten, für die reicht auch eine halbe Digitalisierung. Die Programme selbst waren nicht auf Krankenhäuser zugeschnitten, sondern aufs Kundenmanagement, Controlling oder Lieferkettenmanagement. Der Arbeitsalltag war damit erfolgreich erschwert worden und regelmäßig erlebte man Schreikrämpfe und Gewalt gegen PCs.

Medizin sieht immer aus wie Fortschritt, Hochglanz, Antikörper und irrsinnig teure Maschinen in minimalistischem Design. Und außerdem ist auch alles immer digital.
Das Krankenhaus ist dazwischen. Es soll alles, es geht nur die Hälfte. Aber irgendwo muss in DIGITALES KRANKENHAUS stehen. Damit es zumindest so aussah, stand auf unserer Station eines Morgens ein (1) Computerturm für eine 40-Betten-Station. Zack, digitalisiertes Krankenhaus. Handschrift per sofort verboten. Dieser Turm war ein schwer zu schiebendes Ungetüm mit einem Computer, auf dem jeder alles eintragen sollte. Pflegeberichte, Visiteneinträge, Medikamentenverordnungen, Entlassungsmanagement, Apothekenanmerkungen, Einträge von Psychoonkologen und Physiotherapeuten. Zum Glück für die Digitalisierung arbeiten im Krankenhaus kaum Menschen, deshalb standen an normalen Tagen nur drei Leute um den Turm herum und loggten sich in einem langwierigen Prozess ein und aus. Denn: Auf keinen Fall dürften hochsensible Patientendaten in fremde Hände geraten. Der Turm hätte richtigerweise mit ins Patientenzimmer gemusst, um zwischen mir und dem Patienten zu stehen, so dass ich den gar nicht mehr hätte sehen können. Der Turm hatte uns nach wenigen Tagen den gesamten Stationsablauf geschreddert, weshalb wir dazu übergingen, zumindest die Medikamentenlisten auszudrucken, um sie zum Patienten mitzunehmen, wo sie ja auch hingehören. Das fiel nach kurzer Zeit auf und wurde verboten, immerhin handelte es sich hier um ein digitalisiertes Krankenhaus.

Ich habe mittlerweile nicht nur einen bereits wieder langweiligen Facebook-Account, sondern auch noch alles andere, was man an Accounts wohl so haben muss. Außerdem habe ich auch noch eine halbe Praxis. In der Praxis schlägt die Digitalisierung unmittelbarer und schneller zu als im Krankenhaus, dafür aber nicht unbedingt besser. Auf einmal hatten wir keinen IT-Experten mehr, den man mal schnell was fragen konnte, auf einmal waren wir selbst die IT-Experten. Wir hatten eine Praxis übernommen, die ausschließlich mit einem Karteikartensystem arbeitete, einzig die Abrechnung lief über einen Computer. Zwischen uns und der KV steht jetzt der TI-Konnektor, zwischen den MFAs und dem digitalisierten Terminplaner steht Panik, zwischen mir und der Praxissoftware steht oft Unverständnis.
Ich hasse diese Digitalisierung, weil sie so stümperhaft und langsam verläuft, und ich hasse sie, weil sie viel zu schnell ist. Ich möchte mir mit zwei Klicks Fremdbefunde angucken können, und ich möchte, dass auf keinen Fall irgendjemand auf Patientendaten zugreifen kann. Verschwiegenheit, Ehrfurcht, Dankbarkeit, you know.
Nicht richtig digital geprägt, aber gut hineingewachsen, handydaddelnd und meinen Patienten verbunden stehe ich irgendwo dazwischen.
Und irgendwie glaube ich, dass man da auch den Weg in eine gesunde Digitalisierung finden kann- irgendwo dazwischen.

Nini Bela