Rettungsdienst und Schnittstelle Intensivstation

31. Juli 2019

Als du zu mir gebracht worden bist, hätte ich keinen Pfifferling für dich gegeben.

Du kamst zu mir in den Schockraum nachdem auf einer Landstraße ein Überholmanöver schief ging und du einen Frontalaufprall mit einem entgegenkommenden Auto hattest. Deine Tochter saß mit im Auto. Du warst das, was wir im Fachjargon Polytrauma nennen.

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern.

Der Schockraumalarm wurde ausgelöst, wir erhielten nur knappe Informationen, haben aber in solchen Fällen immer genug Zeit uns vorzubereiten, nicht so die Kollegen, die dich aus dem Auto geholt haben.
Als du eintrafst war der Raum plötzlich voll, wie immer in solchen Situationen. Es herrschte immer eine konzentrierte Hektik.
Ich guckte schnell in die Gesichter, man erkannte sich wieder, aber Namen sind nicht geläufig. Ein Nicken musste reichen, vielleicht noch ein kurzes „Hi“.
Du wurdest umgelagert, warst intubiert und beatmet, Blut an deiner Kleidung, an deinem Körper und an der Kleidung der Kollegen.

Man versteht sich fast blind in solchen Situationen, Handgriffe sitzen, wichtige Informationen werden mit Effizienz ausgetauscht.
Jeder wusste was er zu tun hat, wer wo stehen musste , wer wo anfassen musste. Man kennt sich und irgendwie auch nicht. Man lächelt manchmal knapp. Man duzt sich. Man gehört irgendwie zusammen und du warst unser Fokus, unsere Arbeitsfläche.

Ich schaue mich noch mal um während die Übergabe des Notarztes zu hören war. Alle waren hochkonzentriert, dennoch sah ich die Erschöpfung. Die Besatzung, die dich aus dem Auto geholt hatte, war kurz vor dem Feierabend und hatte fast 24 h Dienst hinter sich. Deine nahezu unverletzte Tochter wurde erwähnt und ich freute mich für sie, für dich, für die Mutter und für meine Kollegen, die kein totes Kind an diesem Morgen sehen mussten

Als die Besatzung den Schockraum verlässt sage ich noch: „Bei der nächsten Tour bitte Kaffee mitbringen.“ Man lächelt mich an und antwortet: „Klar Chefin, aber nur weil du es bist.“ Ich überlege wie er heißt, weiß es aber nicht.

Wir arbeiteten zügig unser Programm ab. Es ging dir nicht gut. Beckenfraktur, Thoraxtrauma, Milzruptur, einige Frakturen der unteren Extremitäten und ein Schädel-Hirn-Trauma. Nach der langen OP kamst du zu mir auf die Intensivstation. Drei Wochen lang kämpften wir für dich und dein Leben. Wir hatten unsere Höhen und Tiefen aber letztlich konnten wir dich irgendwann extubieren und du musstest nicht mehr beatmet werden. Deine Sprache kam wieder und wir fingen an zu kommunizieren.

Dann kam der Tag als deine Verlegung zur weiteren Behandlung in einem anderen Krankenhaus anstand. Der Transport wurde bestellt und an diesem Tag war kein Notarzt mehr nötig dich zu begleiten. Als die fast identische Truppe, die dich damals auch brachten, wieder bei dir standen erklärte ich dir kurz mein Innehalten. Du sagtest bewegt und um Fassung ringend: “Danke!”

Wir lagerten dich um und ich übergab dich an fähige Kollegen. Meine Aufgabe war erledigt und meine Verantwortung für dich endete damit. Ich riss kurz und knapp deinen Aufenthalt ab, wieder nicken und Rückfragen die auf den Punkt waren. Auch wenn die Aufgabe eine Leichtere war, der Raum war mit Konzentration und Effizienz gefüllt. Als alles übergeben war sagtest du nur: “Der Pfifferling sagt Tschüss. Wiedersehen will ich dich nicht.”

Wie umarmten uns. Etwas was ich sonst nicht mache.

Ich blickte den Kollegen an und wir nickten uns wie immer nur zu und ich blieb in einem leeren Zimmer. Kurz vor Ende des Dienstes, als ich dabei meine Sachen zusammen zu packen, stand dann mit Kaffee bewaffnet der Kollege wieder vor mir, drückte mir den Becher in die Hand und sagte: “Versprochen ist versprochen. Ich heiße übrigens Christian”

Wir lachten.

So erweiterte sich die Medizinfamilie um ein weiteres Mitglied. Manchmal namenlos aber niemals gesichtslos. Man kennt sich und respektiert sich. Man scherzt, man findet Freundschaft und Zugehörigkeit. Aber zu Beginn ist es immer Verbundenheit, weil uns eine Ausnahmesituation zu einem Team macht, was hocheffizient zusammenarbeiten muss und auch tut. Unser Fokus warst all die Wochen du. Nur in verschiedenen Bereichen, mit verschiedenen Blickwinkeln und Aufgaben.

Dein Überleben war unsere gemeinsame Aufgabe.

Christian und ich reden heute noch manchmal über dich, wenn wir uns sehen und hoffen im Gegenzug, dass du uns einfach vergessen hast. Dass du nicht mehr an uns denkst und du völlig frei von diesem Ereignis bist.

Wir wissen heute, dass du schon lange wieder zu Hause bist, dich gut erholt hast und mit deiner Tochter wieder im Garten spielen kannst. Ein zweites Kind ist unterwegs.

SchwesterUnbequem