Landarztleben – leicht gemacht?

24. Mai 2019

Hier an gleicher Stelle war vor einigen Tagen der Beitrag von @SchwesterFD zu lesen über die Arbeitsbedingungen einer angestellten Ärztin in einer großen Landarztpraxis.

Hier nun einige Ergänzungen aus meiner Sichtweise (als Praxisinhaber), schon viele Jahre als „Dorfdoktor“ in einer westfälischen Kleinststadt tätig.

Schon im Studium war mir klar: Ich gehe in die Allgemeinmedizin, gehe aufs Land (obwohl aus einer Großstadt stammend), kann mich mit Forschung/Lehre an der Uni oder Laufbahn in einer Klinik nicht anfreunden.

Familiär völlig „unbeleckt“ hinsichtlich Medizin stand dieses Ziel fest – ohne Diskussion!

Meine Studienfreunde, einige inzwischen habilitiert, einer sogar Ordinarius einer großen Inneren Abteilung einer Uniklinik in Süddeutschland, tippten sich damals schon an die Stirn ob meines Berufszieles, ich erntete hauptsächlich Unverständnis.

Durchgezogen hab ich es, gegen fremden (und manchmal auch eigenen) Widerstand. Gut, es war auch Glück dabei, manches hat sich einfach gefügt, manches habe ich durchgeboxt.

DIESE Medizin, die ich nun seit 21 Jahren praktiziere, ist fern der großen Kliniken, fern der technisch ausgeklügelten Notfallmedizin, manchmal auch fern von „Leitlinien“, Vorschriften und Gesetzen. Bitte nicht falsch verstehen: Ich bin Kassenarzt, halte mich an die Vorschriften, begehe keine Verbrechen und betrüge nicht, aber es gibt Situationen, da gilt es zu improvisieren, da verlangt es Phantasie zum Wohle des Patienten.

Ich versuche immer nach dem Motto zu handeln: Der Patient sollte von mir als Arzt immer das erhalten, was ihm in dieser Situation/bei diesem Problem am besten nützt, womit ihm JETZT am meisten geholfen ist!

Beispiele?

Ich versuche das einmal an einem (fiktiven) hypothetischen und durchschnittlichen Arbeitstag in meiner Praxis zu demonstrieren.

7:30h: Bin seit 7:00h am Schreibtisch, die Krankenkassenanfragen von gestern sind noch zu beantworten (warum ich einen bestimmten elektrischen Rollstuhl für einen vom Hals ab gelähmten jungen Mann verordnet habe, warum es nicht mit einem einfachen Modell geht; warum ich spezielle Schuheinlagen verschrieben habe und nicht die einfachen; warum die Haushaltshilfe für eine 3fache Mutter nach schwerer Bauch-OP unbedingt acht Stunden/Tag und unbedingt drei Wochen sein muß etc.)

Die MFA sind alle schon da, die Praxis startklar, die ersten 10 Patienten warten schon auf dem Bürgersteig.

Die ersten Termine sind Routine (Erkältung, Blasenentzündung, Magenverstimmung), ich wechsle von Zimmer zu Zimmer im 10-Minuten-Takt (so ist der Terminplan gestrickt), unterschreibe zwischendurch dutzende Rezepte, Überweisungen, Krankschreibungen.

Dann, ohne Vorwarnung, sitzt ein Patient im Zimmer, den ich bisher als taff, mitten im Leben stehend und ansonsten immer ziemlich fordernd und kritisch kenne. Beim Hereinkommen bricht er in Tränen aus, läßt sich kaum beruhigen … es stellt sich heraus, dass seine Ehefrau ihn am Vortag verlassen und so ziemlich den ganzen Hausstand mitgenommen hatte.

Die „verbale Intervention“, das Reden, die Zuwendung dauert, frisst Zeit, auch meine Kraft. Der ganze Ablauf stockt, an der Anmeldung und im Wartezimmer kochen langsam die Emotionen hoch.

Nach einer halben Stunde habe ich ihn soweit stabilisiert, dass ich die AU fertig mache (arbeiten kann er definitiv nicht), mit der weit entfernten Tochter telefoniert, ihm mehrfach die Hände gehalten habe und er auf deutliche Nachfrage meinerseits keine Suizidabsichten äußert.

9:45h: Die Rentner, die älteren Menschen, die morgens Zeit haben und eigentlich nur reden wollen, möchten auch dementsprechend angesprochen werden. Da frage ich nach den Kindern und Enkeln, nach dem Garten / schafft er noch den großen Rasen zu mähen oder macht er häufig Pause = Herzinsuffizienz? Ich frage die Bauern nach Schweine-und Milchpreisen (hab da wirklich keine Ahnung von, freut sie aber), ob genug oder zu wenig Regen fürs Kornwachstum gefallen ist usw.

Ich weiß, wo die Höfe liegen (bin auf fast allen schon zum Hausbesuch gewesen), weiß, wo die Kinder leben, kenne die Nachbarn, weiß, wer gerade Schützenkönig ist oder Vorsitzender der Landjugend. Wenn der medizinische Teil abgeschlossen ist mit Abhören, Blutdruckmessen und Ausstellen von Rezepten frage ich, wohlwissend, dass es Zeit kostet. Die Leute sind dankbar, registrieren mit feiner Antenne, ob ich nur frage: “Wie geht’s heute?“ oder ; Sagen Sie mal, was macht Ihr Sohn, hat der immer noch Probleme mit seinem Arm, schafft er es eigentlich noch den Traktor hinaufzuklettern oder die Kälber zu füttern?“

Ich nehme teil am Leben meiner Patienten, interessiere mich für die großen medizinischen und auch die kleinen menschlichen Probleme, damit werde ich ein Teil IHRES Lebens. Mir werden Sachen erzählt, die weiß nicht einmal der Ehepartner, der Pfarrer oder die besten Freunde (Schweigepflicht ist mir heilig!).

10:05h: Die MFA bittet mich dringend zur Anmeldung zu kommen: eine Patientin bekommt schlecht Luft, hat sich schon 1x übergeben, ist schwitzig und fahl; nach vorsichtigem Bugsieren ins EKG-Zimmer („Ich kann selber gehen!“) ist schnell klar: akuter Myokardinfarkt, hab den Telefonhörer schon in der Hand: „Ich geh nicht ins Krankenhaus, wer versorgt dann meinen Mann? Außerdem steht mein Fahrrad noch vor der Praxis …(sic!)“ = ich rede erst ruhig, dann eindringlich, zuletzt sehr laut: AB INS KRANKENHAUS! Die Frau fügt sich, brummelt den Rettungsdienst an und wird abtransportiert (Tage später kommt ein Dankeschön von den Kindern, dass ich mich „durchgesetzt“ habe).

10:25h: Kurzer Rückzug ins Privatzimmer, Kaffee kippen, Luft holen, auch telefonieren mit Kollegen.

10:35h: Weiter im Takt, inzwischen ist der Terminplan komplett eine Farce, alles hat sich verschoben, mindestens sechs Patienten da sind als Notfall, d.h. in der Regel Rückenschmerzen, Fieber oder Durchfall/Erbrechen, dazwischen geschoben worden.

Eine meiner Haupttätigkeiten: Chirotherapie (HWS/BWS/LWS/ISG): man glaubt nicht, wie oft die Leute Gelenk/Rücken/Kopfschmerzen haben und ganz häufig eben Blockaden: die RENNEN mir die Bude ein, viele Kollegen schicken mir Patienten; aber die müssen eben alle in die Sprechstunde eingebaut werden.

11:55h: Kleine Platzwunde beim kleinen Kind am Kinn (im Kindergarten von Wippe gefallen): jetzt sollte ich eigentlich sagen: “das lassen sie besser im Krankenhaus nähen“, mache es aber selbst, weil keine Fraktur erkennbar, keine Neurologie und die Mutter bittet: „Können sie das nicht hier machen, ich muß gleich wieder zur Arbeit und bis die im KH für uns Zeit haben, ist der Mittag rum“… also Wundversorgung, Naht, Verband, Impfstatus, Hinweise für die Mutter: kostet alles Zeit, Kraft, Energie.

Aber die Leute erwarten das, freuen sich, vertrauen mir, bauen eine jahrzehntelange Bindung zu mir auf (von der Wiege bis zur Bahre).

Wo ich dabei bleibe, wird von den meisten nicht gefragt; gelegentlich sagt einer, dass ich doch mal öfters Urlaub machen solle („aber was mache ich dann, wenn ich Sie brauche??“)

13:30h: Erster Teil des Tages rum, jetzt Bürokram, endlose Unterschriften, Sichten sämtlicher Laborwerte vom Vortag, KH-Berichte usw.

14:15h: Hausbesuche, dabei häufig reine Routinebesuche, man freut sich, erzählt, bietet mir Kaffee an (haben Sie eigentlich zu Mittag gegessen, Herr Doktor? [ NEIN, habe ich nicht!]), manchmal auch stationäre Einweisungen, Organisieren von Betten, RTW-Transport, Telefonate mit Angehörigen.

15:00h: Ab nach Hause, Mittagessen in mich reinschaufeln, vorm Haus spricht mich ein Nachbar an: “Kann ich heute noch bei dir einen Termin bekommen, hab Rückenschmerzen …“

15:30h: Der zweite Teil der Sprechstunde geht los; im Prinzip wie morgens, nur weniger Rentner, dafür mehr die Berufstätigen und Pendler, die sich freuen, daß sie um 18h noch einen Termin bekommen.

Wenn ich gegen 21h die Praxis verlasse (nicht jeden Abend, aber in der Grippezeit möglich), dann ist mit mir nicht mehr viel anzufangen. Es folgt die geistige und körperliche Erschöpfung, Familienleben in Kurzform (wir freuen uns aufs Wochenende), komatöse Schlafzustände und den Wiederbeginn am nächsten Morgen.

Warum mache ich das? Weil ich es wollte! Nicht unbedingt immer SO, aber schon so ähnlich.

Das ist mein Verständnis von Medizin, ganz nah dran am Patienten, mit ihnen und für sie.

ABER: ich habe ein Motto, dem ich von Anfang an huldige: Mitfühlen, aber nicht mitleiden! Patienten bleiben aus meinem Privatleben, Patienten sind nicht meine Freunde (denn dieses suche ich mir aus) und meine Familie ist mir heilig!

Würde ich den Weg wieder gehen? Eindeutig ja! Es ist alles so, wie ich es mir gewünscht habe, nur die Sache mit der Zeit … aber dafür bin ich ja im #Twankenhaus, um etwas zu verbessern.

Und dann der Kostendruck/Regressgefahr von den Krankenkassen … eine unglaubliche Belastung all meiner Tätigkeiten, entnervend, drohend, ausbremsend: Habe ich damals nicht drüber nachgedacht, war mir nicht wichtig.

Heute aber ist das DER Hauptgrund dafür, dass mir das Landarztleben sauer wird, dass viele junge Kollegen vor einer Niederlassung zurückschrecken.

Natürlich spielen da Gentrifizierung, veränderte Gesellschaft, längere Lebenszeit/Krankenzeit, Pillenknick und Verteuerung der Medizin mit hinein, aber trotzdem … Ich wünsche mir nicht mehr Geld, sondern mehr Kollegen!

 

Wir freuen uns sehr, dass unser Gründungsmitglied @Twaeskulap recht spontan so tiefe Einblicke in seinen Alltag gewährt hat.