Der ganz normale und alltägliche Blaulichtwahnsinn…

30. Juli 2019

Ich stehe mit meinem Kollegen im Lager und arbeite die Bestellliste ab. Zwischen Beatmungsmasken Größe 3 und 4 geht der Melder. Wir lassen alles stehen und liegen und laufen in die Fahrzeughalle. Ich steige in meine Stiefel, ziehe den Stecker der Stromversorgung ab und steige in den RTW. Unser Fahrzeug ist ein Mercedes Sprinter mit Allrad. Hoch und fast 5 Tonnen schwer. Ich bestätige den Einsatz per Digitalfunk (Status 3) und öffne im Navigationsgerät die verkürzte Einsatzmeldung: „Vitale Bedrohung“ Entfernung zum Einsatzort 19 Kilometer. Es geht um ein Menschenleben, wir haben es also sehr eilig. Während ich den Motor starte und das Navigationsgerät die schnellste Route zum Einsatzort errechnet, entert der Notfallsanitäter (mein Beifahrer) das Fahrzeug. Er hat das Einsatzfax in der Hand und etwas mehr Informationen. Wir wissen jetzt, dass ein Notarzt auch unterwegs ist, wie der Patient heißt und unsere Einsatznummer. Ich schalte das Blaulicht ein und wir verlassen die Wache

Es ist 7:45, das heißt Berufsverkehr, also viel los auf der Straße. Ich fahre, soweit es der Verkehr und die Straßenbreite zulässt mittig, so kann ich im Rückspiegel mit dem Blaulicht und den aufgeblendeten Scheinwerfern am besten wahrgenommen werden. Laut §38 der Straßenverkehrsordnung darf blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn nur dann verwendet werden, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden (…) Es ordnet an: Alle übrigen Verkehrsteilnehmer haben sofort freie Bahn zu schaffen.

Theoretisch müssten also alle Fahrzeuge, die uns im Rückspiegel oder vor sich mit Blaulicht sehen und/oder unser Martinshorn hören (das in der Pressluftstufe immerhin mit gut 120dB auf sich aufmerksam macht) sofort Platz machen. Am einfachsten wäre es, frühzeitig (!) langsamer zu werden und auf den Randstreifen zu fahren. Das Auto geht nicht kaputt, wenn 2 Reifen mal Kontakt zu Gras haben. Wenn dies auf beiden Spuren (also auch im Gegenverkehr) funktionieren würde, wären wir schnell und sicher für alle am Einsatzort. Leider sieht es in der Realität anders aus: Wir werden ignoriert, es wird versucht schneller zu fahren als wir, kurz vor uns wird noch auf die Straße eingebogen, in letzter Sekunde wird scharf gebremst und dann Straßenmittig angehalten, wir werden blockiert, ignoriert, zu Vollbremsungen gezwungen – die Liste ist unendlich lang und wird täglich länger.

Gleiches gilt im Stau auf Autobahnen u.ä. es ist eine Rettungsgasse zu bilden! Das ist keine Empfehlung, das ist Gesetzt (§11 Abs. 2 StVO)! Wer es nicht schafft in so einer Situation vorausschauend Platz für Einsatzfahrzeuge zu schaffen, oder gar die entstandene Gasse für sein eigenes Weiterkommen nutzt, zeigt deutlich, dass es an persönlicher Eignung zur Teilnahme am Straßenverkehr mangelt. Dass wir, unterwegs um einem Menschen in Lebensgefahr schnellstmöglich zu helfen, überhaupt kein Verständnis für solch ein Verhalten haben, sollte nachvollziehbar sein.

Wir erreichen die Einsatzstelle, gestresst, weil es wieder vielen Verkehrsteilnehmern nicht wichtig erschien, uns Platz zu machen. Jetzt heißt es tief durchatmen, umschalten, den Ärger der Anfahrt vergessen, konzentrieren. Was erwartet uns?. Während wir die Handschuhe anziehen und unser Arbeitsmaterial (Notfallrucksack, EKG, Sauerstoff, Absaugpumpe…) zusammenpacken und zum Haus laufen, sammeln wir uns und sind bereit und hoch fokussiert, dem Menschen in höchster Not zu helfen der uns im Haus schon sehnsüchtig erwartet..

Blaulichtfahrten bergen ein 8x höheres Unfallrisiko als normale Fahrten. Wir wissen, es geht um ein Menschenleben. Unsere Nebennieren schütten Adrenalin aus, unser Puls wird schneller – wir wollen schnell zu dem Menschen in Not. Werden wir unterwegs ständig ausgebremst, zum Anhalten und Ausweichen gezwungen, verlängert sich die Zeit, die wir zum Patienten benötigen. Zeit, die der Patient unter Umständen nicht hat. Wenn wir mit unserem 5-Tonnen-Auto voll bremsen oder schnell ausweichen müssen, ist das deutlich gefährlicher, als mit einem normalen Auto. Zudem ist es für den Patienten hinten drin auch kein angenehmes Gefühl. Wir sind keine Rambos mit Blaulicht – wir wissen, dass nur wer sicher ankommt, auch helfen kann. Und das wäre so einfach, wenn die restlichen Verkehrsteilnehmer (gilt übrigens auch für LKW, Fahrrad, Motorrad, Roller, E-Scooter, Fußgänger etc…) vorausschauend und solidarisch einfach Platz machen würden. Keinem Ego bricht etwas aus der Krone, wenn er einen Notarzt oder einen Rettungswagen vorbeilässt. Und nein, wir sind nicht auf dem Weg zum Metzger unsere Semmeln holen, wir sind auf dem Weg ein Menschenleben zu retten! Und es könnte auch dein Menschenleben oder das deiner Liebsten sein – vergiss das nicht.

Also bitte, wenn Blaulicht im Rückspiegel auftaucht oder vor dir: Frühzeitig Platzmachen, keine Vollbremsungen in letzter Sekunde, kein Rennen fahren, nicht die freie Fahrbahn für sich selber nutzen oder den Vorausfahrenden, der schon Platz gemacht hat noch schnell überholen; einfach nur kurz Platz machen – Wir und vor allem die Menschenleben die dadurch gerettet werden können, danken es dir! Denn nur so sind wir auch schnell zur Stelle wenn DU mal unsere Hilfe benötigst!

Dr_Tscho