Ich wollte nie Ärztin werden. Eigentlich wollte ich nach England und irgendwas mit Sprachen studieren, aber auf einmal lag eine Zusage zum Medizinstudium in der Weltstadt Lübeck im Briefkasten. Ich ging joggen und dachte, „Scheiße“.
Viele Jahre, zwei Kinder und eine Schlafstörung später bin ich nun Fachärztin für HNO mit einer hälftigen Zulassung in einem gesperrten Gebiet. Klingt komisch? Ist es auch!
Praxis beginnt mit Stichworten wie Anwalt, Vertrag, Zulassungsausschuss, Kreditantrag, Nervenzusammenbruch. Wenn das überstanden ist, ist man, wenn es gut läuft, so was wie ich jetzt. Und es geht auch schon los, morgens um acht stehen zehn Patienten vor der Tür, keiner hat einen Termin, aber alle sind krank. Die nächsten fünf haben Termine. Kein Durchkommen durch die Stehparty für das kleine strubbelige Wesen, auch Chefin genannt, das neuerdings ein gesetzlich vorgeschriebenes Qualitätsmanagement für das eigene Unternehmen (huch!) mit ungefähr 2,5 Angestellten macht.
Wir sind eine ganz normale HNO-Praxis mit ganz normalen Patienten. Wir behandeln Schnupfen, Husten, Heiserkeit, Krebskranke, Polypenkinder, verohrenschmalzte Ohren und unlösbaren Schwindel. Und das, worum es eigentlich geht, macht Spaß. Der 98-jährige Tennisspieler, der den Brief vom Kardiologen mit dem Tennisverbot nicht versteht. Das tapfere kleine Mädchen mit dem schon wieder schlecht aussehenden Trommelfell, allergische Großfamilien. Mein Kollege operiert jetzt seine eigenen Patienten und sieht sie hinterher zur Nachbehandlung wieder, diese Situation gibt es im Krankenhaus ja oft nicht. Ich habe im Krankenhaus mit den Patienten nicht so viel gelacht wie jetzt. Ich darf oft aber gar nicht so lange lachen, denn draußen auf dem Tresen liegen schon wieder unüberschaubar viele Karten.
Wir wissen nicht, wie viel wir arbeiten müssen, weil wir nicht wissen, was die KV uns in ein paar Monaten überweist oder abzieht. Regress. Pharma-Ampel. Plausi-Prüfung. Panik. Auf dem Praxis-Konto sind keine Reserven, aber da müssen welche sein, und außerdem ist die Optik kaputt, deshalb gibt es seit einem Vierteljahr kein Einkommen und Geld von den Eltern oder der Bank.
Ich kenne mein neues Umfeld noch nicht richtig. Wie geht das mit den Logopäden, was darf auf welches Rezept. Die 50- oder 70-Stunden-Woche wird langsam glaubhaft. Selbst und ständig.
Ich hole eine Patientin mit eingewickelten Blumen und drei Einkaufstaschen aus dem Wartezimmer und wundere mich beim Blick in die Karte, warum sie schon wieder da ist – war sie doch erst letzte Woche da. Erster Gedanke, was habe ich falsch gemacht, zweiter Gedanke, das heute wird gar nicht bezahlt.
Die Patientin kommt rein, gibt mir den großen Blumenstrauß und holt eine Tafel Schokolade aus der Tasche.
„Ich wollte nur nochmal danke sagen.“
Sie hatte den Termin gemacht, weil sie nicht mitten in der Sprechstunde stören wollte, denn wir hätten ja immer so viel zu tun.
Ich hoffe, dass die Panik besser wird und dass irgendwann das passiert, weswegen ich mich für diesen mysteriösen Weg entschieden habe: um Menschen zu behandeln, wie ich mir das vorstelle. Medizin so zu betreiben, wie ich sie verstehe und wie sie vielleicht gedacht ist.
Dafür kämpfe ich mich jetzt durch diesen ganzen Kram.
Und ich glaube, das ist dann #MeinEinsatzFürDich.